Peter Roth.
Die achtziger Jahre gelten als das «dunkle Jahrzehnt». Überdurchschnittlich viele Kinder wurden damals in der Schweiz als vermisst gemeldet. Betroffen war auch die Ostschweiz.
Die Hügel des Neckertals sind vom saftigem Grün der Wiesen und Blattwerk der Wälder geprägt. Sommerferien werden heuer Corona-bedingt im eigenen Land verbracht. Zu den Ausflugsmagneten in der Ostschweiz gehört auch der Baumwipfelpfad bei Mogelsberg. Kaum etwas scheint die sommerliche Idylle zu beeinträchtigen, bis bei den Wanderern ein Name fällt, der echoartig mit der Region in Verbindung gebracht wird: Peter Roth.
Der damals 7-Jährige Zweitklässler kaufte am 12.Mai 1984 auf dem Heimweg von der Schule in die Aachmüli einen Beutel Chips. Dies ist das letzte Lebenszeichen. Die Packung wurde 300 Meter vom Elternhaus entfernt gefunden. Trotz grossen Anstrengungen bei der Suche wurde der Vermisstenfall nie geklärt.
Peter Roth.
Dunkle Jahre
Das Verschwinden des Primarschülers fällt zeitlich in eine Phase, die gelegentlich als die «dunklen achtziger Jahre» bezeichnet werden. In ihr wurden überdurchschnittlich viele Kinder als verschwunden gemeldet; schweizweit waren es 21.
Von den Vermisstenfällen sind einige bis heute ungeklärt. Einige Namen haben sich dabei sozusagen in das kollektive Gedächtnis der Ostschweiz eingeprägt. Sie haben auf tragische Weise Bekanntheit erlangt: Edith Trittenbass, Peter Roth sowie Peter Perjesy.
Da es sich um junge Menschen handelt, die am Beginn ihres Lebens standen, ist die Betroffenheit in der Bevölkerung bis heute besonders ausgeprägt. Zudem verschwanden sie in ländlichen Regionen, die eher mit Überschaubarkeit und Naturnähe, kaum aber mit Kapitalverbrechen in Verbindung gebracht werden. Jeder kennt hier beinahe jeden, entsprechend intensiv nimmt man Anteil. Das verschwundene Kind könnte auch die eigene Tochter oder der Sohn gewesen sein.
Tiefe Verunsicherung
Damals war auch Werner Ferrari aktiv, der fünf Kinder umbrachte, aber keines der in der Ostschweiz vermissten. In diese Zeit fällt auch der Mord an den Goldacherinnen Brigitte Meier (17) und Karin Gattiker (15), die 1982 beim sogenannten Kristallhöhlen-Mord in Oberriet ums Leben kamen.
Im Gegensatz zu den drei anderen Kindern wurden die Leichen gefunden, aber der oder die Täter landeten nie vor Gericht. Unaufgeklärte und ungesühnte Delikte lassen die Angehörigen und die Bevölkerung nie zur Ruhe kommen.
Bei plötzlichen unerklärlichen Einbrüchen in den gewohnten Alltag setzt ein Mechanismus ein, den die Psychologie bestens kennt. Das Gehirn sucht reflexartig nach Deutungen, die dem Vorfall einen Sinn geben und es damit fassbarer machen. Mit einer rationalen Erklärung kann das Ereignis ins bisherige Weltbild eingefügt werden und die Verunsicherung lässt nach.
Zudem sollen Verantwortliche benannt und zur Rechenschaft gezogen werden, damit das Gefühl gesellschaftlicher Gerechtigkeit wieder hergestellt werden kann.
Unerwartete dramatische Ereignisse lösen Gefühle der Ohnmacht aus. Hilflos unerklärlichen Ereignissen ausgeliefert zu sein, löst in Menschen grosse Unruhe aus.
Bizarre Spekulationen
Wenn jedoch ein Ereignis unaufgeklärt bleibt, werden die rudimentär bekannten Fakten zu einer Erklärungstheorie zusammengefügt. Öfters schiessen dabei auch Gerüchte und Spekulationen ins Kraut, die sich kaum an den Fakten orientieren. Sehr anschaulich zeigte dieser Mechanismus während der Covid19-Pandemie, bei der die Verschwörungstheorien und Schuldzuweisungen bizarre Blüten trieben.
Die Mutter eines der vermissten Kinder sagte in ein Reportermikrophon, das Schlimmste seien die Wahrsager gewesen, die angebliche Aufenthaltsorte der Vermissten bekannt gaben. Sie erzeugten damit bei den Eltern falsche Hoffnungen.
Dauerhaft Vermisste und andere rätselhafte Ereignisse rufen immer wieder selbsternannte Ermittler und Personen mit einem ausgeprägten Geltungsdrang auf den Plan.
Peter Perjesi.
Unabgeschlossener Verlust
Am 22.September 1981 kam Peter Perjesy aus Wattwil-Ulisbach nach einem abendlichen Tischtennis-Training im Schulhaus Risi nie zuhause an.
Die einzige Spur, die vom damals 14-Jährigen blieb, waren sein Velo sowie seine Jacke. Trotz umfangreicher Suche in der ganzen Gegend blieb er bis heute spurlos verschwunden. Die Ungewissheit über das Schicksal einer verschwunden Person ist für die Angehörigen besonders quälend. Es sei ein Wechselbad der Gefühle, beschrieb es seine Mutter gegenüber einer Reporterin.
Sie lebt heute im St. Galler Oberland. «Mit dem Tod kann man abschliessen, man kann an ein Grab gehen oder ein Ritual machen.» Aber wenn die Person nie gefunden werde, könne man nichts machen, um den Verlust zu bewältigen. Es bleibt ein Wechselbad von Hoffen, Resignieren und Trauern. Man komme dabei auf die wildesten Spekulationen, erzählt eine andere Mutter eines Vermissten.
Ungelebtes Leben
Am 3.Mai 1986 verschwand die Primarschülerin Edith Trittenbass aus Wetzikon TG auf dem Weg in die Primarschule in Wolfikon. Eine stichhaltige Erklärung für das Verschwinden gab es nie. 2018 wurde für sie bei Gericht eine Verschollenheitserklärung beantragt.
Heute wäre sie 42 Jahre alt. Womöglich würden ihre eigenen Kinder allmählich flügge.
Edith Trittenbass.
Adrian Zeller (*1958) hat die St.Galler Schule für Journalismus absolviert. Er ist seit 1975 nebenberuflich, seit 1995 hauptberuflich journalistisch tätig. Zeller arbeitet für diverse Zeitschriften, Tageszeitungen und Internetportale. Er lebt in Wil.
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