Wenn ein Bett in einer Intensivstation steht, ist es ein Intensivbett. Die kann man zählen. Dann kommt man auf 853. Aber auch das stimmt wieder nicht. Auf was ist denn noch Verlass?
Es wird wieder gewarnt. Die Warnung ist nicht neu, aber wirksam. Alarm, die Spitäler sind am Rand der Leistungs- und Aufnahmefähigkeit. Dazu gibt es, so gehört sich das, eine genaue Aufstellung des Bundesamts für Gesundheit (BAG). Moment, also da wollen wir genau sein:
«Die Kapazitäten der mehr als 150 Spitäler und Kliniken der Schweiz erhebt der Koordinierte Sanitätsdienst (KSD) über das Informations- und Einsatzsystem (IES). Der KSD, das BAG, die Schweizerische Gesellschaft für Intensivmedizin (SGI) und der Verband H+ Die Spitäler der Schweiz haben gemeinsam die zu erhebenden Daten festgelegt.»
Aber wie auch immer. Man kann das auch Kanton für Kanton haben, auf jeden Fall gab es am 5. September haargenau 853 Intensivbetten in der Schweiz. Die waren zu 77,7 Prozent belegt. Zu einem runden Drittel mit Covid-19-Patienten, zu 44,1 Prozent mit Non-Covid, wobei also 22,3 Prozent frei waren.
Also alles im grünen Bereich, könnte man meinen. Denn auch Spitäler müssen kostenoptimiert arbeiten, sonst erhöbe sich ein Riesengebrüll, wenn die Prämien für Krankenkassen noch weiter in die Höhe schnellen würden. Und ein leeres Intensivbett kostet nicht viel weniger als ein belegtes. Also sollte es davon so wenig wie möglich geben.
Aber ausreichend, damit immer eine Reserve vorhanden ist, für Notfälle. Nun könnte es selbst in der Schweiz mal zu einer Naturkatastrophe kommen, sagen wir ein grosses Erdbeben in Basel. Dann wären die Intensivstationen von einem Moment auf den anderen völlig überlastet.
Das wäre natürlich eine Tragödie, aber würde deswegen jemand ernsthaft verlangen, dass die Schweiz eine Reserve von – sagen wir mal – 1000 Intensivbetten vorhalten sollte? Sicher nicht.
Aber die Probleme mit den Intensivbetten fangen schon viel früher an. Mit der nur scheinbar banalen Frage: was ist das? Ein Bett ist ein Bett, da bewegen wir uns noch auf sicherem Gelände. Ein Bett, das im Spital steht, ist ein Spitalbett. Wunderbar. Ein Intensivbett steht in der Intensivstation. Aber Achtung, da fehlt etwas: ein Intensivbett wird gezählt, wenn es ein von der Schweizerischen Gesellschaft für Intensivmedizin (SGI) zertifiziertes Bett ist.
Wie es sich für die Schweiz gehört, ist so eine Zertifizierung ein ziemlich Ding – und dauert. Blenden wir kurz zurück, denn man kann doch aus der Vergangenheit lernen. An Ostern 2020 schlug die SGI Alarm: 98 Prozent aller Intensivbetten seien belegt, der Kollaps drohe.
Gleichzeitig winkte das BAG ab: Die Belegung betrage schlappe 53 Prozent, von den insgesamt 1550 Intensivbetten stünden ganze 730 leer. Wie das? Ganz einfach, das BAG zählte auch die nicht zertifizierten Intensivbetten.
Daraus lernen wir drei Dinge. Damals wurde innert kürzester Zeit der Bestand auf über 1500 heraufgesetzt. Damals standen 1500 Intensivbetten zur Verfügung. Schon damals gab es Corona-Kreischen, die Nahkämpfe um die letzten Intensivbetten und Leichenberge vor den Eingängen von Spitälern vorhersagten.
Ein Bett ist ein Bett. Aber die Anzahl Betten lässt sich, ein Wunder, verändern. Ist nicht in Stein gemeisselt. Kann, was geschah, deutlich verringert werden. Könnte auch, was ebenfalls schon geschah, auch vermehrt werden.
Nun gibt es bei Intensivbetten noch einen weiteren, nicht unwichtigen Faktor. Das Bett ist das eine, der darin liegende Patient das andere. Und das Betreuungspersonal das dritte, wohl Wichtigste.
Nun ist es laut KSD so, dass zurzeit eben 853 Betten zur Verfügung stünden, von denen aber laut SGI aber nur 750 bis 800 auch betreut werden können – Personalmangel. Aus diesem Grund stünden zwar theoretisch 22,3 Prozent leer, sei aber die Belastungsgrenze von fast 100 Prozent betreuten Betten erreicht.
Nun kann es ja durchaus passieren, dass angesichts neuer Mutationen, Ferienrückkehrern, Versagen beim Testen usw. ein Anstieg von Covid-Patienten zu verzeichnen ist, die Intensivpflege benötigen. Nehmen wir grosszügig an, dass das unvorhersehbar sei, obwohl auch diese Annahme sehr kühn ist.
Dass es aber einen Notstand an Pflegepersonal gibt, dass das nicht zuletzt daran liegt, dass dieser Beruf lausig bezahlt ist, dass es an genau den Corona-Abschottungsmassnahmen liegt, dass die Abwerbung von solchem Personal aus östlichen Ländern nicht mehr so funktioniert wie früher, dass dieses Personal schon länger an der Belastungsgrenze arbeitet, auf Ferien verzichtet, Doppelschichten fährt – das ist weder unvorhersehbar, noch von einem Tag auf den anderen aufgetreten.
Das ist eindeutiges und glasklares Versagen. Menschliches Versagen. Von uns allen. Sich mal auf den Balkon stellen und mit ernstem Gesicht klatschen, das ist alles, was all den besorgten Gutmenschen eingefallen ist. Damit dachten sie, mal wieder ein starkes Zeichen der Solidarität gesetzt zu haben – sehr zum Ingrimm des Spitalpersonals, das sich zu Recht verscheissert vorkam.
Das ist ein Versagen der Politiker und der Regierenden, die sich in «wir müssen unbedingt» überboten, sofortige Abhilfe forderten, bessere Löhne, bessere Arbeitsbedingungen, Anstrengungen, mehr Personal einzustellen, auszubilden, usw. – und in Wirklichkeit nichts taten. Zumindest nichts Nennenswertes.
Um von diesem grobfahrlässigen Versagen abzulenken, wird nun auf die fahrlässigen Impfverweigerer eingeprügelt, als sei impfen das einzige Allerheilmittel und der Königsweg aus der Pandemie.
Ein Bett ist ein Bett, so einfach ist das. Aber ein unbetreutes Bett nützt nix. Völlig egal, wo es steht und wie man es bezeichnet. Notbett, Klappbett, Doppelbett, Spitalbett, Intensivbett. So wie nicht alles, was vier Räder hat, deswegen auch fährt, ist ein frisch bezogenes, mit verstellbarer Kopfhöhe ausgestattetes, von allen möglichen Monitoren umstelltes Bett deswegen noch lange kein Intensivbett.
Es kann aber sofort zu einem werden. Wenn in der Vergangenheit schon der Bestand an Intensivbetten auf über 1500 gesteigert werden konnte, sollte das ja anderthalb Jahre später auch möglich sein. Oder nicht?
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