Die Nerven liegen nicht blank. Aber die Wirtschaft hat mit einigen Herausforderungen zu kämpfen. Markus Bänziger, Direktor der IHK St.Gallen-Appenzell blickt im Gespräch auf die turbulenten Zeiten zurück und nennt jene Bereiche, die aktuell am meisten für Bauchschmerzen sorgen.
Markus Bänziger, Sie sind nun seit vier Jahren Direktor der IHK St.Gallen-Appenzell. Was würden Sie als bisheriges Highlight bezeichnen?
Das Jubiläumsjahr 2022. 555 Jahre Industrie- und Handelskammer St.Gallen-Appenzell waren Anlass für uns, den Blick auf die Vielfalt und Breite der Ostschweizer Wirtschaft zu richten. Die Ostschweiz hat sich in den vergangenen 100 Jahren zu einer äusserst diversen Wirtschaftsregion entwickelt. Diese Breite und Vielfalt schafft wirtschaftliche Widerstandsfähigkeit. Dank dem Jubiläumsjahr konnten wir diese Stärke in einer breiten Kampagne sichtbar machen: Statt den Blick auf uns als Institution und ihre Vergangenheit zu richten, haben wir die Gegenwart und Zukunft beleuchtet sowie unsere Mitgliedsunterunternehmen ins Rampenlicht gestellt. Und die Botschaft kam an: Die Ostschweizer Wirtschaft steht für Vielfalt.
Und wofür steht die IHK heute? Welche Positionierung war Ihnen persönlich wichtig?
Die IHK steht für einen intensiven Austausch mit unseren Mitgliedern und ermöglicht einen Austausch untereinander. Wir arbeiten eng mit befreundeten Organisationen wie den regionalen Arbeitgeberverbänden oder der IHK Thurgau zusammen. Wir generieren Mehrwert durch Begleitung und Beleuchtung der aktuellen und relevanten wirtschaftspolitischen Dossiers. Hierbei setzen wir uns aktiv für eine nachhaltig wirtschaftsfreundliche Politik in unserem Kammergebiet ein. Die Kernregion Ostschweiz soll heute und in Zukunft ein maximal attraktives Umfeld als Unternehmensstandort und als Arbeits- und Lebensort sein. Der offene, konstruktive Dialog mit der Politik als oftmals letztinstanzlich gestaltende Kraft der Rahmenbedingungen war und ist mir wichtig.
Sie haben das Amt ja durchaus in einer «spannenden» Phase inne. Corona. Ukraine-Krieg. Energiekrise. Wünschten Sie sich manchmal, es würde etwas mehr Normalität in den Alltag einkehren?
Normalität im Sinn von maximaler Sicherheit, Planbarkeit und Ausgewogenheit wünschen sich wohl die Meisten. Doch diese Utopie werden wir wohl nie erreichen. Wir können lediglich unsere Anstrengungen darauf konzentrieren, dieser so nah als möglich zu kommen. Die Schlagzahl der Herausforderungen, die unsere Wirtschaft und Gesellschaft enorm strapazieren, häufen sich derzeit stark. Sie haben einige erwähnt, dazu kommen nun die von kaum jemandem prognostizierte Inflation, Zinsanstieg und eine abkühlende Nachfrage in vielen Absatzmärkten unserer Exportunternehmen. Zusehends erlangen die Auswirkungen und Herausforderungen der alternden westlichen Gesellschaft Visibilität in der Öffentlichkeit. Kurzum: die Ansammlung von Herausforderungen ist die Normalität, nicht die Absenz dessen. Diese Herausforderungen mit unseren Mitgliedsunternehmen zu verfolgen, Lösungsansätze zu entwickeln, Chancen durch Wandel aufzuzeigen und so Impulse zu setzen, ist unsere höchst spannende Aufgabe, ja unser Alltag.
Unter welchem Schlagwort würden Sie aus Sicht der IHK das Jahr 2022 verbuchen?
Krise als Chance. Ein Jahr mit zwei Weckrufen: Die zwischenzeitlich exorbitanten Energiepreisanstiege und der sich nun in diversen Branchen als Vorbote abzeichnende Fach- und Arbeitskräftemangel bergen die Chance, dass wir als Gesellschaft und Land den Mut aufbringen, bisher von hohem Wohlstand genährte Bequemlichkeiten zu überwinden. Eine Krise kann nur dann als Chance gesehen werden, wenn man bereit für Wandel ist.
Wir haben Wahlen vor uns. Wie ist Ihre Einschätzung: Ist unsere Gesellschaft gespalten und sucht in den Polen ihre Erfüllung oder könnten die Mitte-Parteien Boden gut machen?
Nicht gespaltet, aber gefährdet. Die Schweiz gründet ihren Wohlstand auf Konsens, Miteinander und Ausgleich. Die exponentiell wachsende Informationsdichte verstärkt den Wettbewerb um Aufmerksamkeit. Dieser Wettbewerb wird von Medien und Parteien mit Lautstärke, Schrille und Extrempositionen bestritten. Folge ist, dass vermeintlich gewinnt, wer pointierte, zugespitzte Positionen abgibt. Den Zenit hierin haben die USA überschritten, es scheint aus unserer Perspektive ein tief gespaltetes Land zu sein. Es bleibt zu hoffen, dass das in der Breite hohe Bildungsniveau der Schweiz Früchte trägt und die einzig auf Stimmenfang ausgerichteten Positionen von der Polparteien erkannt werden. Für die Herausforderungen wie Alterung der Gesellschaft, Energieversorgung und auch die Klimaerwärmung brauchen wir Lösungen. Polpositionen und Verharren darauf verhindern Lösungen.
Die Wirtschaft wird arg strapaziert. Wir haben es bereits erwähnt. Liegen die Nerven nun langsam so richtig blank?
Nein, die Nerven liegen nicht blank, wiewohl wir eine Eintrübung der Konjunktur für möglich halten. Der Finanzkrise 2007/2008 ist ein breiter Aufschwung, einzig durch den Euro-Schock 2015 unterbrochene Wachstumsphase gefolgt. Ein breites Wachstum liegt hinter uns; die Arbeitnehmenden haben spürbare Reallohnanstiege erlebt. Die zweijährige Corona-Krise hat diesen Aufschwung jäh unterbrochen. Der Wirtschaftseinbruch war enorm - weltweit grösser als in der Schweiz. Aber der Ausweg wurde gefunden. Die nun wieder angesetzte Aufholjagd wurde und wird abgeschwächt durch zuerst Lieferkettenunterbrüche, Energiepreisanstiege, nun durch Inflation und Zinsanstieg. Die grösste Sorge der Unternehmen aber ist der branchenspezifische Fachkräftemangel, der sich zusehends zu einem gesamtwirtschaftlichen Arbeitskräftemangel ausdehnt. Dies, obwohl diese Einschätzungen gegenwärtig noch je nach Branche, Region und Absatzmarkt unterschiedlich ausfallen.
Die negativen Schlagzeilen können einem arg zusetzen. Setzen Sie sich dem noch immer täglich aus?
Die Frage ist, welche Medien man liest und was man daraus macht. Die Informationsdichte zwingt zur sorgsamen Selektion. Ja, ich lese mit grossem Interesse Medien, aber ausgewählt. Schliesslich ist dies sowohl mein Beruf als auch meine Berufung.
Wir suchen Leitfiguren. Gibt es solche auch in der Ostschweiz?
Ich widerspreche: Nicht wir suchen Leitfiguren, es kann Menschen geben, die solche suchen. Gerade die Ostschweiz braucht und sucht keine Leitfiguren. Aber Vorbilder, ja.
Was nehmen Sie sich persönlich für das Jahr 2023 vor?
Nahe bei unseren Mitgliedern zu sein und die für die Ostschweizer Wirtschaft relevanten Themen eng zu verfolgen.
Und womit soll die IHK Schlagzeilen machen?
Wir suchen keine Schlagzeilen. Wir wollen in aktuellen und relevanten Fragen fundierte Diskussionsbeiträge, Impulse und auch Zielvorstellungen liefern. Wenn wir mit unseren Themen, Ideen und Impulsen Debatten auslösen und Veränderungen anstossen, dann haben wir unser Ziel erreicht. Das sind derzeit das rechtliche, ja somit auch das gesellschaftliche Verhältnis der Schweiz zu unseren Nachbarländern, die Energieversorgung, das aus der Zeit gefallene Altersvorsorgesystem, der nötige Ausbau der digitalen Erreichbarkeit und vor allem der Fach- und Arbeitskräftemangel. Diese Aufzählung ist nicht abschliessend: Eine zu breite Palette, um mit nur einer Schlagzeile Aufmerksamkeit zu erlangen. Die Herausforderungen sind umfassend, aber lösbar.
Marcel Baumgartner (*1979) ist Chefredaktor von «Die Ostschweiz».
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