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«Die Stickerin», Roman von Margrit Schnider

Eine Appenzellerin macht sich auf nach New York: «Da ist eine Nadel. Sticke deinen Traum!»

Maria Antonia Räss (1893-1980) ist – frei nach Virginia Woolf - vom Stamm der Pionierinnen und Sternenpflückerinnen. Mit nicht viel mehr als einer Sticknadel und einem Ballen Leinen ist sie aus den Wellenhügeln Appenzell Innerrhodens aufgebrochen nach New York. 

Die Ostschweiz am 05. Februar 2024

Sie hat Ozeane überquert und Wege für Nachkommende bereitet. Vom Fädlermädchen zur Schaustickerin zur Textilunternehmerin: Davon erzählt Margrit Schriber in ihrem begeisternden Roman «Die Stickerin».

Maria Antonia Räss, Tochter eines Viehhändlers in Eggerstanden bei Appenzell, hat schon als Fünfjährige zum Familieneinkommen beigetragen, als Fädlermädchen. Früh hat sie von der Mutter die Kunst der filigranen Appenzeller Handstickerei erlernt. Sie wird eine besonders begabte Schaustickerin.

Schaustickerin an mondänen Orten

Während Bomber am Himmel dröhnten, sass sie, Kaiserwappen in Taschentücher stickend, am Brandenburger Tor in Berlin. In der kriegsversehrten Welt verkaufte Antonia Maria Räss im Tessin Idylle: Bestickte Mouchoirs und Bauernmalerei. Ein amerikanischer Rotkreuz-Fahrer erwarb ein Bildchen des Vaters.

Das Mäuschen darauf entzückte den GI mit Namen Walt Elias Disney – seine «Mouse», vielleicht verwandt mit dem Mäuschens aus Appenzell, feiert dieser Tage ihren hundertsten Geburtstag. Es ist der Beginn einer lebenslangen Freundschaft – wie sie Maria Antonia Räss mit vielen berühmten Persönlichkeiten pflegte, die ihr noch begegnen sollten: mit Eleonore Roosevelt, Isaac Stern, Julie Andrews, Coco Chanel.

«Lieber Walter Elias Disney», hat sie ihm später geschrieben, «Du hast Dein Farytale mit dem Zeichenstift erschaffen. Ich erschaffe dieses mit der Stahlspitze einer Sticknadel.»

27-jährig ist sie mit dem Ersparten und kleinem Gepäck – ihre Sticknadeln und ein Ballen Leinen – vom elterlichen Hof Grüt in Eggerstanden aufgebrochen und mit dem Dampfer in die Neue Welt gereist. Wie sie selbst befand sich die Gesellschaft zwischen den Weltkriegen in Aufbruchstimmung. MAR griff nach den Sternen. Ihre gestickten Initialen wurden zu ihrem Logo. «Da ist eine Nadel. Sticke deinen Traum!», so lautet das Vermächtnis für ihr Patenkind.

Fakten und Fiktion

Margrit Schriber erzählt das Leben von Maria Antonia Räss entlang ihrer Lebensdaten und den akribisch recherchierten historischen Fakten. Mit Empathie taucht sie ein in dieses aussergewöhnliche Frauenleben. Sie entwirft das Lebensgemälde einer unerschrockenen Frau, einer Wegbereiterin, einer erfolgreichen unabhängigen Unternehmerin und einer unglücklich Liebenden.

Die exquisiten Nadelmalereien, die Appenzellerinnen im Showroom an der 5th Avenue in New York in feines Tuch stickten, waren begehrte Sammlerstücke, wurden gar in Museen gezeigt. MAR baute sich daraus ein Imperium auf. Miss Räss, wie sie in den USA genannt wurde, bereiste später andere Kontinente, auf der Suche nach neuen Stickereimotiven. Globalisierung nahm sie vorweg und dem Niedergang in der Stickereibranche - von Handgesticktem zur Maschinenstickerei – vermochte sie sich auf kluge Art anzupassen.

Als aufsehenerregende Besucherin residierte sie in ihren letzten Lebensjahrzehnten auf «Heimaturlaub» in Appenzell im «Hecht», dem ersten Hotel am Platz, und empfing im Dior-Kleid zahlreiche Bekannte und viele Bittsteller. Vom dunkelhäutigen Chauffeur wurde sie mitsamt riesigen Überseekoffern im weissen Cadillac durch die Wellenhügel gefahren. Manche Einheimischen erinnern sich noch daran.

Maria Antonia Räss teilte ihren Reichtum: Für die 1973 in modernem Stil erbaute Kirche in Eggerstanden stiftete sie zusammen mit weiteren Familienmitgliedern mehrere Hunderttausend Franken. Erst vor wenigen Jahren wurde eine Erinnerungstafel angebracht – dank dem heute im «Grüt» wohnenden Bauern Karl Mock.

Fast vergessene Wohltäterin

Dennoch: Maria Antonia Räss wurde beinah vergessen. Zum Frauenstimmrechtsjubiläum hat man sich ihrer in einer Ausstellung erinnert und im neuen Appenzeller Kulturführer wird auf ihr Leben verwiesen.

Nach ihrer Beerdigung versammeln sich im Roman «Die Stickerin» die Erben, die ihre Tante kaum gekannt haben. Das ist der Einstieg in die Geschichte mit historischem Hintergrund. Die in Zofingen lebende Margrit Schriber, selber eine Ikone der Schweizer Literatur, hat keine Biografie verfasst, sondern einen Roman, der die Geschichte eines Jahrhunderts und zeitlose Frauenthemen miterzählt.

**Ein Fest für Miss Räss **

Der Roman «Die Stickerin» der mehrfach ausgezeichnete Schweizer Schriftstellerin Margrit Schriber erscheint Anfang März im Bilgerverlag (Zürich). Am Sonntag, 17. März 2024 findet um 15 Uhr im Hotel Hof Weissbad die Buchpremiere statt. Es liest die Innerrhoder Schauspielerin Karin Enzler, das «Appenzeller Echo» sorgt für den musikalischen Rahmen und Landammann Roland Inauen überbringt Grussworte; der Bücherladen Appenzell richtet einen Büchertisch ein.

(Bild: Maria Antonia Räss (1893-1980) baute sich in New York ein Textilimperium auf. PD)

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