Ex-Tagblatt-Chefredaktor Gottlieb F. Höpli kann’s nicht lassen, Auffälligkeiten vor dem Bildschirm oder in der Zeitung medienkritisch zu kommentieren.
Bundesratskandidatin Dem St.Galler Tagblatt entnimmt man schon auf der Frontseite die sensationelle Nachricht, dass die St.Galler Grünen-Politikerin Franziska Ryser für eine Bundesratskandidatur angefragt wurde. Nicht gerade von der Bundesversammlung oder von einem anderen mehrheitsfähigen Gremium, aber immerhin von den Grünen, die nur leider keine Chance haben, nach den eidgenössischen Wahlen den Anspruch auf einen Bundesratssitz zu erheben. Macht nichts: Unter der Bundeshauskuppel galt als höchster Punkt in der Karriere eines gewöhnlichen National- oder Ständerats schon seit jeher, einmal im Leben als Bundesratskandidat in der Zeitung genannt zu werden. Jetzt halt, und sogar mit mehr Chancen als männliche Kollegen, -Kandidatin.
Herzlos «Lachender Dritter» sei die Ukraine nach dem abenteuerlichen Zug der Wagner-Mörderbande nach Moskau, titelte das St.Galler Tagblatt – beziehungsweise dessen journalistische Paten in Aaarau – auf der Montags-Frontseite. Was es in diesem blutigen Krieg, der bisher Hunderttausende von Menschenopfern gekostet hat, zu lachen gibt, wurde nicht weiter erklärt. Womöglich noch herzloser zeigte sich das Tagblatt beziehungsweise der CH-Medienverbund zuvor, als er das Sinken des Schiffs mit Hunderten aufrikanischer Flüchtlinge vor Griechenlands Küste keiner aktuellen Meldung würdig befand. Hunderte ertrunkener Migranten? Was ist das schon gegen das Drama von fünf tiefseetauchenden Millionären auf der Suche nach dem Wrack der Titanic?
Sexistisch Kim de l’Horizon, Medienstar der Saison, der immer so schöne Bildli hergibt, darf sich auch in der NZZ äussern. Im «NZZ magazin» bekennt er/sie/wieauchimmer sich zu einem Wissenschaftsverständnis, das näher bei den Hexen der Vorzeit als bei den Nachfolgern von Descartes und Leibniz liegt. Die Vorstellung einer «harten, rationalen Wissenschaft» sei sexistisch: «Wer die Naturwissenschaften so verehrt, huldigt dem Phallus». Das erinnert mich an die Anekdote vom Patienten, dem der Arzt eine gezeichnete Linie, ein Dreieck und ein Viereck vorlegt und der in jeder dieser Zeichnungen immer nur eine nackte Frau erkennt. Und auf die Nachfrage, ob er nicht etwas sehr auf nackte Weiblichkeit fixiert sei, antwortet: «Wer hat denn diese Schweinereien gezeichnet, Herr Doktor? Sie oder ich?»
Neues Deutschland Das Nachfolgeorgan des SED-Zentralorgans «Neues Deutschland» existiert noch immer, wenn auch unter dem Kürzest-Kürzel «nd». Die Einsparungen an Buchstaben im Zeitungstitel reichen aber anscheinend nicht: Das Blatt steckt in einer Finanzkrise und hat im letzten Geschäftsjahr 400'000 Euro mehr ausgegeben, aber 200'000 Euro weniger eingenommen als budgetiert. Mit anderen Worten: ein bedrohliches Defizit eingefahren. – Das erinnert mich an den Witz, den ich damals irgendwo in der UdSSR hörte: Eine russische Delegation wird von Moskau als Entwicklungshelfer nach Afrika geschickt. Dorthin, wo die Armut am grössten ist, in die Sahara. Ein Jahr lang hörte man im Kreml nichts. Dann kabelte die Delegation: «Könnt Ihr uns nicht etwas Sand schicken? Er wird hier langsam knapp.»
Gottlieb F. Höpli (* 1943) wuchs auf einem Bauernhof in Wängi (TG) auf. A-Matur an der Kantonssschule Frauenfeld. Studien der Germanistik, Publizistik und Sozialwissenschaften in Zürich und Berlin, Liz.arbeit über den Theaterkritiker Alfred Kerr.
1968-78 journalistische Lehr- und Wanderjahre für Schweizer und deutsche Blätter (u.a. Thurgauer Zeitung, St.Galler Tagblatt) und das Schweizer Fernsehen. 1978-1994 Inlandredaktor NZZ; 1994-2009 Chefredaktor St.Galler Tagblatt. Bücher u.a.: Heute kein Fussball … und andere Tagblatt-Texte gegen den Strom; wohnt in Teufen AR.
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