«Auslöschung», der neue Roman des Schriftstellers Giuseppe Gracia, handelt von einem islamistischen Terroranschlag an einer Abendgesellschaft in Berlin. Auf einer tieferen Ebene erzählt er vom Ende persönlicher und politischer Illusionen. Eine Buchanalyse von Jeannette Fischer.
Der namenlose Protagonist in Gracias Roman ist ein Witwer, dessen Frau Veronika sich umgebracht hat, «unter dem pünktlichen Tonnengewicht der Schweizerischen Bundesbahn», wie es im Text heisst. Der Witwer wird von seinem Schwager, einem Theaterregisseur namens Lichtenberger, nach Berlin an eine Abendgesellschaft eingeladen. Als die Islamisten den Anlass stürmen und ihre Opfer nacheinander hinrichten, live gestreamt ins Internet, verschwimmen die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit, Ort und Zeit.
Es ist eine traumwandlerische Ungewissheit, mit der hier das Gute und Böse verhandelt wird, das Richtige und Falsche, das Schuldige und Unschuldige. Bis ins kleinste Detail wird der Terror beschrieben, doch am Schluss bleibt unklar, wer nun Täter und wer Opfer ist. Gracias Sprache erzeugt einen starken Sog und lässt den Leser nicht ausruhen, zerrt immer wieder weg von jeder Gewissheit und Denkgewohnheit, hinein in eine dauerhafte Spannung. Was ist Gesellschaft, was ist Kirche, Kultur, Gemeinschaft? Alle klaren Antworten zerfetzt Gracia in der Luft, stösst den Leser in die tieferen Fragen, die wir im Alltag gern übergehen. Fragen, denen wir ausweichen, bis wir uns am Ende des Weges daran erinnern, wie konsumfreudig und zerstreut wir sie umschifft haben. Es ist auch die Wut über diese Versäumnisse einer tieferen Auseinandersetzung mit dem Dasein, die der Erzählung Sprengstoff verleiht.
Virtuos spielt der Roman mit den Zeit- und Handlungsebenen. Man weiss nicht, träumt der Protagonist oder phantasiert er? Sitzt er im Theater, inszeniert von seinem Schwager Lichtenberger, oder ist alles brutale Realität? Ist der Erzähler bereits tot und spaziert nochmals durch seine Vergangenheit? Wartet er gar auf seine Hinrichtung, und der ganze Roman ist eine minutenschnelle Rückschau auf die Lebensstationen eines zum Tode Verurteilten? Auch hier schenkt der Roman keine Gewissheit. Das muss man aushalten. Die Gefühlslage ist anarchisch und anarchistisch und so, dass uns gerade diese angespannte Atmosphäre den Boden wegnimmt, auf dem wir uns so gerne ausruhen, dem Boden der Illusion einer klaren Wahrheit, einer Richtigkeit und Sicherheit für alle. In dieser Erzählung erscheint das als künstliche und kitschige Dummheit.
Gracia eröffnet den Roman mit dem Terror in Berlin und lässt ihn damit enden, dazwischen werden die versteckten Abgründe und Unmenschlichkeiten des Alltags aufgefächert. So heisst es an einem Anlass, an dem sich die Kultur-Oberklasse trifft: «Wie sie dir schmetterlingsleicht die Hand reichen und dann schnell an dir vorbei in die nächste Begrüssung flattern. Wie sie in alle Richtungen ihre frisch geduschte Bescheidenheit verströmen». Etwas später: «Weil ich diese Leute in Wahrheit bewundere, ihre Herrenausstatter-Anzüge ebenso wie die eng anliegende Vulgarität ihrer Seidenkleider (….) Ich verspüre das Verlangen, sie schnell und hart und von verschiedenen Seiten zu ohrfeigen.» Mit einer unverschämten Genauigkeit wird an anderer Stelle die Begegnung mit einer Frau geschildert: «Sie will, dass ich dem Geruch ihrer Hoffnungen folge. An der Hast ihres Atems und am Hochzeitsappetit ihrer Küsse merke ich…»
Der Roman ist gespickt mit einer Poesie der Genauigkeit, des Beobachtens und Aufdeckens. Und führt doch nicht ins Pessimistische, Hoffnungslose, denn es ist beste Literatur, die Räume öffnet und zum Nachdenken anregt. Wie steht es um mich, wie nehme ich die Welt wahr, meine Beziehungen, meine gesellschaftlichen Rollen? Dass der Raum für diese Fragen wie selbstverständlich über dem Spannungsbogen schwebt, macht den Roman zusätzlich faszinierend.
*Jeannette Fischer ist Psychoanalytikerin und lebt in Zürich.
«Auslöschung», Roman von Giuseppe Gracia, Fontis Verlag Basel 2024
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