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Grenzblick (3)

Eine Rhetorik, bei der jedem Angst und Bange werden müsste

Der Schweizer Thomas Baer lebt seit einigen Jahren in Vorarlberg. In loser Folge berichtet er künftig über die Coronasituation in unserem Nachbarland Vorarlberg. Hier Folge 3 der Serie.

Thomas Baer am 16. November 2021

Liebe Schweizerinnen, liebe Schweizer

Wie Sie sicher mitbekommen haben, hat Österreich nach den Korruptionsvorwürfen und Skandalen in der Regierungspartei seit geraumer Zeit einen neuen Bundeskanzler, den vorher nur wenige hier wirklich gekannt haben. Schon am Tag nach dem Abgang von Sebastian Kurz kursierten Karikaturen, wo man Alexander Schallenberg, so der Name des Neuen, als Marionette oder Kasperlepuppe eines bis über die «Schlitzohren» strahlenden Sebastian Kurz’ sieht.

Um ein Kasperletheater geht es hier aber ganz und gar nicht, auch wenn man darüber lachen könnte; dies wäre zumindest befreiend. Doch der Auftritt des neuen Kanzlers am vergangenen 11. November in Vorarlberg, lässt einen den Atem stocken. Die Massenmedien hätten wahrscheinlich gerne Titel wie «Der Knallhart-Kanzler greift durch» oder «Schallenberg lässt die Peitsche knallen» gesetzt und viele Leserinnen und Leser hätten die Rede noch beipflichtend beklatscht. Lauschte man aber der Rhetorik, welche der Neue an den Tag legte, dann müsste eigentlich Jedem Angst und Bang werden. «Für mich ist klar: Es soll keinen Lockdown der Geimpften geben aus Solidarität für die Ungeimpften.» Er sehe nicht ein, dass zwei Drittel ihrer Freiheit verlustig gehen, nur weil ein Drittel zaudere. Es werde für Ungeimpfte ein sehr ungemütlicher Winter und Weihnachten geben. Ein Lockdown für Ungeimpfte sei eine «sehr harsche Massnahme, aber offenbar eine notwendige.» Man werde hier zudem den Kontrolldruck weiter verschärfen. Er könne nicht nachvollziehen, warum sich die Mehrheit von der Minderheit «in Geiselhaft» nehmen lassen sollte. Er hoffe, dass die «Drohkulisse» Wirkung zeige. Die Impfquote bezeichnete er als «beschämend niedrig», man sei mit den Massnahmen noch nicht «am Ende der Fahnenstange» und man werde die Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen diskutieren.

Daneben lächelte Landeshauptmann Markus Wallner (ÖVP) in die Kameras, mit Verweis auf die Vorarlberger Impftage, wo man 50'000 Impftermine bereitstelle. Das nicht zu unterschätzende Problem vielleicht; die Bevölkerung müsste dieses Angebot auch annehmen. Die «erfolgreiche» Schweizer Impfwoche lässt grüssen!

Wie aber lässt sich dieses Gebaren, diese «Drohkulisse» deuten? Wer so spricht – ist vielleicht nicht «am Ende der Fahnenstange», aber am Ende des Lateins. Es ist Ausdruck purer Verzweiflung, da inzwischen auch die österreichische Regierung nicht mehr wegdiskutieren kann, dass es sich hier nicht bloss um eine «Pandemie der Ungeimpften» handelt, wie jetzt – man lese, höre und staune auch ein gewisser Herr Drosten öffentlich und unumwunden zugibt. Auch hierzulande gibt es mehr und mehr Impfdurchbrüche, auch wenn man von diesen in den öffentlichen Medien kaum etwas liest und es die österreichische Regierung weiterhin negiert. Die Impfung als das alleinige Allerheilsmittel als Ausweg aus dieser «Pandemie», wie es unser Ex-Kanzler noch vor wenigen Monaten immer wieder anpries, zeigt nun anscheinend doch nicht die gewünschte Wirkung. Um das Gesicht nicht zu verlieren, argumentieren viele Politiker dann so, die Delta-Variante sei viel gefährlicher und ansteckender. Dies mag durchaus der Fall sein; aber dann müsste man auch fairerweise eingestehen, dass die Impfstoffe gegen diese Variante und vielleicht noch weitere griechische Varianten doch nicht so erfolgreich sind, wie man anfänglich glaubte. Und statt, dass man die Zeit genutzt hätte, in den Ausbau von Intensivstationen und Ausbildung von zusätzlichen Pflegefachkräften zu investieren, erleben wir hier eine Totalpleite einer völlig überforderten Regierung. Ehrliche und glaubhafte Politik wäre es, Fehler und Versäumnisse einzugestehen. Aber eben, das mit ehrlicher Politik ist nicht nur hier in Österreich so eine Sache…

Stattdessen setzt man weiterhin nur auf das vermeintlich eine «rettende» Mosaiksteinchen, auf das Boostern; sicher ein drittes, wohl aber im kommenden Frühjahr oder Sommer dann ein viertes Mal: Und wer weiss, wie es danach weitergeht. Ursprünglich hiess es, zwei Impfungen würden ausreichen und die Impfung beende die Pandemie, dann hiess es, sie sei der «Gamechanger», um kurze Zeit später nur noch Teil der Lösung zu sein, und aktuell ist es bloss gut, sich impfen zu lassen aus Selbstschutz, da man längst weiss und gesehen hat, dass selbst eine doppelte Dosis vor der Weitergabe des Virus’ nicht schützt. Selbstverständlich kann man jetzt argumentieren, man lerne täglich und wöchentlich dazu; das stimmt gewiss. Aber dann muss es auch erlaubt sein, sagen zu dürfen, dass wir hier aktiv an einem «Experiment» teilnehmen, dessen Verlauf wir nicht oder noch nicht kennen, sondern zeitgleich verfolgen und erleben. In diesem Moment ist es unseriös zu äussern, Langzeitstudien hätten gezeigt, wie die Impfstoffe wirken, denn wir wissen schlicht und ergreifend nicht, wie die Situation in einem weiteren Jahr aussehen wird. Aber davon will ein grosser Teil der Bevölkerung nichts hören, egal ob hier irgendwo in Österreich, in Vorarlberg oder bei euch in der Schweiz.

Ob eine «Drohkulisse» eines Bundeskanzlers der richtige Weg hin zu einer sachlich inhaltlichen Diskussion ist, wage ich stark zu bezweifeln. Zielführend ist die Vorgehensweise meines Erachtens nicht. Die Politik, aber auch gewisse Medien sollten respektieren, dass es andersdenkende und anders-argumentierende Menschen gibt. Es gibt nicht nur einfach DIE eine Meinung und DAS eine Richtige. Übrigens funktioniert auch Wissenschaft nicht so. Wissenschaft ist keine demokratische Veranstaltung, bei der die Mehrheit «gewinnt», nein, eine starke wissenschaftliche Evidenz, schlägt eine schwache, wie dies die chinesische Chemikerin und Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim treffend auf den Punkt bringt. Da im Falle des «neuartigen Coronavirus’» die wissenschaftliche Evidenz noch immer Gegenstand der aktuellen Forschung ist, dürften wohl noch Monate, wenn nicht Jahre ins Land ziehen, bis man diesen Virenstamm und sein Wirken ganzheitlich verstanden hat. Im Moment aber befinden wir uns nach wie vor in einer Art Blindflug. Genau darum wäre es vielleicht gut, wenn unsere Politiker einmal nach Schweden – um das Land ist es in letzter Zeit erstaunlich still geworden – oder andere Länder schauen würden, die längst eine ganz andere Strategie gefahren und ihre Massnahmen aufgehoben haben und die heute nicht schlechter dastehen, wie Länder, welche auf die harte Lockdown-Methode setzten. Natürlich kann es auch in Schweden jederzeit wieder losgehen; aber hier hat man gelernt oder zumindest akzeptiert mit dem Virus zu leben und appelliert an die Eigenverantwortung der Bevölkerung, jedoch ohne Einschränkungen und Bevormundung durch den Staat. Hier leben die Menschen ein «normales» Leben, und ein aktueller Blick in die Statistik zeigt, dass im skandinavischen Land derzeit so gut wie nichts passiert…

In diesem Sinne phüet eu

Thomas Baer

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Autor/in
Thomas Baer

Thomas Baer (*1971) absolvierte das Lehrinnen- und Lehrerseminar und unterrichtete von 1999 bis 2006. Danach arbeitete er als Freischaffender Journalist für den Tages Anzeiger Regional, verfasste auch sporadisch astronomische Berichte und Reportagen für die Neue Zürcher Zeitung und wurde ab 2007 Redaktor der astronomischen Fachzeitschrift ORION, welche durch die Schweizerische Astronomische Gesellschaft SAG herausgegeben wird. Heute lebt und arbeitet er in Vorarlberg.

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