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Gastbeitrag

Eine unheilvolle Heilsgeschichte – und ein Aufruf zum Zusammenstehen

Der Kaiser ist nackt. Und nur die Kinder merken es. – Gastautor Timo Boehm über die jüngsten Beschlüsse des Bundesrats in der Coronapolitik und wie dieser einen weiteren Baustein auf dem eingeschlagenen «Heilsweg» bildet.

Timon Georg Boehm am 17. August 2021

Spätestens nach den neuesten «Beschlüssen» des Bundesrates, die gar nichts beschliessen, sondern den Status quo zementieren, sollte es dem hintersten und letzten gedämmert haben, wohin die Reise geht: Die Corona-Massnahmen und die damit einhergehende Traktierung der «ganz normalen» gesunden Menschen, eigentlich der grossen Mehrheit, werden nicht aufhören, sondern sich in wechselnder Form und Gestalt über die nächsten Jahre weiterziehen. Weiter werden gesunde Menschen in Generalverdacht genommen, Gefahrenherde zu sein, aufgrund eines Phantasmas von «asymptomatischer Ansteckung oder Erkrankung». Einen Vorgeschmack davon bekommen wir diesen Herbst, der für Menschen, die nicht willens sind, sich auf gut Glück eine notzugelassene Substanz zu spritzen, richtig ungemütlich wird und schlimmstenfalls in eine 2G Regel (geimpft oder genesen) müden könnte, wenn nicht … aber das kommt am Schluss.

In einer derart verfahrenen Situation ist es hilfreich, einen Schritt zurückzutreten und sich zu fragen, was das ursprüngliche Problem eigentlich war und welche Mittel man zu dessen Lösung ergreifen wollte. Das «Problem» war ein Virus mit einer infection fatality ratio von 0.002% bei Kindern bis einigen Prozenten bei älteren Menschen mit Vorerkrankungen, also möglicherweise gefährlich nur für eine gut definierte und schützbare Risikogruppe. Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Die anfänglichen medizinischen Empfehlungen (man erinnere sich an die ersten BAG Plakate) enthielten niederschwellige, durchaus sinnvolle und erprobte Mittel wie Abstand halten, Hände desinfizieren und bei Symptomen zu Hause bleiben.

Dann aber lief alles aus dem Ruder. Einer Empfehlung von selbsternannten «Experten» folgend, die zuvor in Planstudien in verschieden Ländern durchgespielt wurde, wurde das Problem auf eine politische Ebene verlagert. Der plötzliche Lockdown suggerierte, dass es hier etwas Neues, noch nie Dagewesenes gäbe, dem man nur mit härtester Disziplin und grössten Opfern beikommen könne.

Dann kam jener Test. Ungeeignet als Kriterium, ob jemand tatsächlich ansteckend ist, aber einsetzbar, um Fallzahlen zu erzeugen, an die man nun täglich angstvoll die Blicke heftete wie auf ein Orakel, von dem das ganze eigene Geschick abhinge. Alle durchtesten, prüfen, nach Viren abklopfen, vom Säugling bis zur Grossmutter, so wurde es wie ein Mantra aufgesagt. Und viele fanden hier ihre Berufung als Apologeten und Beschützer der Volksgesundheit. Testen, testen, testen – nota bene mit demselben Test, der nun plötzlich qua Kostenpflicht diskreditiert wird.

Was ist passiert? Aus einem relativ überschaubaren «Problem» wurde immer mehr ein Untergangsszenario konstruiert und medial orchestriert mit immer mehr Crescendo, mehr Bass, mehr Trommelwirbel, mehr Paukenschlägen. Grosse Melodramatik, höchstes Pathos!

Dann kam jene Impfung. Nicht irgendeine Impfung, sondern diesmal wirklich etwas Neues, erst in rudimentären Studien untersucht, aber als Allerheilmittel, als «Königsweg» angepriesen. Auf das Untergangs- folgt das Heilsnarrativ. Alle vorladen, durchimpfen, keimfrei machen, vom Säugling bis zur Grossmutter, so lautet das «solidarische» Gebot der Stunde – nota bene wieder eine Verwechslung der Ebenen, diesmal nicht nur der medizinischen mit der politischen, sondern auch der medizinischen mit der moralischen. Nur so könne der böse Feind besiegt werden. Was aber ist eine Impfung? Von ihrem Grundgedanken her ein möglicher Selbstschutz, wenn er denn erprobt ist. Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Ein individueller Entscheid jedes Einzelnen. Kein moralischer Prüfstein, kein Besiegen eines Feindes, kein kollektives Halleluja.

Doch in den Augen vieler Entscheidungsträger ist eine vollständige Durchimpfung das alleinseligmachende Ziel. Ohne Rücksicht auf mögliche Risiken und entkoppelt vom tatsächlichen Infektionsgeschehen. Eine fixe Idee. Ein Mittel zum Selbstzweck geworden. Dieser Kurs wird von den Kapitänen auch nicht geändert, obwohl viele Ausgucker immer mehr Fälle von Geimpften melden, die dennoch erkranken oder das Virus dennoch weitergeben, und obwohl ihre Schiffe immer mehr in Schieflage geraten. Statt sich dessen zu besinnen, entwerfen sie lieber neue Schreckensszenarien, um die vermeintliche Gefahr aufrechtzuerhalten und das Ziel zu rechtfertigen.

Das hat seine eigene, wenn auch etwas seltsame Logik. Denn dem einmal eingeschlagenen Heilsweg darf nicht widersprochen werden. Das würde einerseits die erbrachten Opfer nicht genügend würdigen, und andererseits das konstruierte Narrativ, an das man sich klammern kann, zerstören. Deshalb reagieren viele so auch gereizt, wenn man ihnen die Illusion nimmt, die sie zum Leben nötig haben.

Und damit niemand vom Dogma abfällt werden auch immer wieder dieselben Drohkulissen auf die Bühne gefahren, obwohl sie schon wackelig und abgeblättert sind: Die Spitäler könnten überlastet sein. Dann bitteschön baue man nicht noch zusätzlich Betten ab, um zu sparen oder wie anderen Ländern geschehen mehr Fördermittel wegen hoher Auslastung zu bekommen.

Was wir jetzt aber beobachten, ist eine Lektion, wie ganze Länder Schritt für Schritt und völlig verblendet in eine totalitäre Ideologie hineinmarschieren. Der Einmarsch beginnt damit, dass die Bevölkerung geteilt wird: Divide et impera (teile und herrsche) war schon ein römischer Imperativ zur Machtergreifung, später von Machiavelli und anderen aufgenommen. In diesem Sinne werden heute Geimpfte und Ungeimpfte gegeneinander ausgespielt mit der absurden Debatte, welche «Gruppe» mehr Rechte und Freiheiten haben solle. Diese Debatte geht sogar soweit, dass in der größten Geschmacksverirrung (nennen wir es einmal höflich so) Sticker für ungeimpftes Personal gefordert werden, und d.h. (nennen wir es nun beim Namen) eine Stigmatisierung von Ungeimpften. Dazu passend hält man auch Zutrittskarten für bestimmte Zonen bereit, mit denen Ein- und Ausschlüsse im öffentlichen Raum aufgrund von bestimmten körperlichen Kriterien gesteuert werden (man nennt sie Covid-Zertifikate). Keine gute Nachricht für diejenigen, die sich ein anderes Urteil über das unheilvolle Heilsnarrativ gebildet haben. Ihre Zäune werden immer enger gesteckt, ihre Weiden immer karger gemacht, ihre Brunnen immer mehr zugedreht.

Ganz wichtig: All dies muss im Namen des Guten geschehen, der Volksgesundheit, des Allgemeinwohls, der Ausrottung des Bösen, und alles muss den Anschein tragen, es sei notwendig und vernünftig. Erst aus grösserer Distanz, wenn wir in einigen Jahrzehnten zurückgeblickt haben werden – und das hoffentlich überhaupt noch können – wird man die totalitären Muster in dieser Entwicklung allgemein durchschauen (und dann wiederum mit dem moralischen Finger auf sie zu zeigen). Steckt man aber drin ist es sehr schwierig, vor allem weil die eigene Lebensform auch davon abhängt. Man muss beispielsweise auf eine Dienstreise ins Ausland, weil das zum eigenen Beruf gehört, weil man damit Geld verdient, weil man damit eine Familie ernähren muss – und dazu müsste man bei einer 2G Regel plötzlich geimpft sein, egal ob diese neuartige Impfung zumutbar, notwendig, wirksam und ungefährlich ist.

Aber…! Drehen wir das Rad wieder zurück und analysieren nüchtern: Impfpässe und Zertifikate sind selber Symptome einer Entwicklung, in der Misstrauen und Kontrolle Überhand genommen haben an Stelle von gegenseitigem Vertrauen und eigenverantwortlichem Handeln. Solche Haltungen und Tugenden müssen wir aber baldmöglichst zurückgewinnen und jedem Menschen zumuten und zusprechen können, wenn wir als Gesellschaft weiterbestehen und die aufgerissenen Gräben nicht weiter vertiefen, sondern zuschütten wollen. Es wird unheimlich, wenn wir nicht – und hier kommen wir zum Anfang zurück – jetzt zusammenstehen, die Spaltung zurücknehmen, keinen Unterschied und keine Wertung zwischen Geimpften und Ungeimpften machen und jetzt mutig alle «Massnahmen» beenden.

Wir können erwachen und aus dem ganzen Verblendungszusammenhang heraustreten, uns die Augen reiben und es könnte zugehen wie im Märchen von Andersen: «Aber er hat ja gar nichts an!» sagte ein kleines Kind. Der Kaiser ist ja nackt…! Es stimmt ja gar nicht, was uns vorgegaukelt wurde. «Er hat ja nichts an!» rief zuletzt das ganze Volk.

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Autor/in
Timon Georg Boehm

Dr. Dr. Timon Georg Boehm hat an der Universität Genf in theoretischer Physik und an der ETH Zürich in Philosophie promoviert. Er arbeitet derzeit auf dem Gebiet der Textwissenschaften.

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