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Modelle anders nutzen

Empa-Forscher und Berkeley-Lab-Forscher schlagen Paradigmenwechsel in der Energieplanung vor

Um den komplexen Anforderungen an künftige Gebäude- und Energiesysteme gerecht zu werden, schlagen die Forscher Matthias Sulzer und  Michael Wetter einen Paradigmenwechsel bei deren Planung vor: Sie fordern einen stärker automatisierten und auf Modellen beruhenden Planungsprozess.

Die Ostschweiz am 18. Juni 2024

Zahlreiche Länder rund um den Globus haben sich verpflichtet, bis 2050 klimaneutral zu sein. Für die Gebäude- und Energiesysteme dieser Länder bedeutet dies einen rapiden Wandel von fossiler hin zu erneuerbarer Energie. Dazu kommt eine viel stärkere gegenseitige Verknüpfung und ständige Interaktion zwischen unterschiedlichen Sektoren und deren Systemen: vom Gebäudepark über die Mobilität bis hin zur Industrie, von Strom über Wärme bis zu synthetischen Brenn- und Treibstoffen.

Verschiedenste Automationssysteme regeln die Produktion, den Transport, die Speicherung, die Umwandlung und die Nutzung von Energie. Und gerade der Gebäudepark kann dem Energiesystem mit kontrolliertem Lastmanagement, Batterien und thermischer Speicherkapazität eine grosse Menge an Flexibilität bieten. Solche interagierenden Systeme brauchen aber eine ganzheitliche, systemische Sichtweise – und müssen entsprechend geplant sein, damit das Netto-Null-Ziel erschwinglich und die Versorgungssicherheit wie bis anhin sichergestellt ist.

Matthias Sulzer ist Forscher in der Empa-Abteilung «Urban Energy Systems» und am «Lawrence Berkeley National Laboratory» in Kalifornien, wo auch Michael Wetter in der Abteilung «Building Technology and Urban Systems» tätig ist. Beide kennen den Energiesektor sowohl in der Schweiz als auch in den USA. «Aufgrund der Komplexität und der geforderten Flexibilität künftiger Energiesysteme sowie der Dringlichkeit eines Wandels sind heutige Planungsprozesse nicht geeignet», so Matthias Sulzer. Trotz Bemühungen, das «Silo-Denken» zu überwinden, ist der Planungsprozess von Gebäude- und Energiesystemen noch immer nach Disziplinen organisiert.

So entwickelt zum Beispiel eine Ingenieurin oder ein Ingenieur das Heizungs-, Lüftungs- und Klimatisierungssystem (HLK) eines Gebäudes auf der Grundlage von Plänen der Architektin oder des Architekten und in Übereinstimmung mit den aktuellen Vorschriften. Der Systementwurf wird an die Gebäudeautomationstechniker weitergegeben, und diese wiederum versuchen, eine geeignete Automation für die gegebenen Spezifikationen zu finden. «Es gibt wenig bis keine Interaktion zwischen den Disziplinen, um Gebäude oder Energieinfrastrukturen als ganzheitliches System zu entwerfen. Es werden oft nur die Schnittstellen für die Übergabe von einer in die andere Disziplin bearbeitet», erklärt Sulzer und vergleicht das Vorgehen mit einem Wasserfall, der linear in eine Richtung fliesst – nach unten – und keine Möglichkeiten bietet, auf eine höhere Ebene zurückzugehen und dort Verbesserungen für das Gesamtsystem einzubringen.

Weg von der Handarbeit hin zur Automatisierung

Gemeinsam mit Forschenden in Berkeley und an der Empa schlagen Sulzer und Wetter daher einen Paradigmenwechsel bei der Planung von Gebäude- und Energiesystemen vor. Inspiration dazu kam von Alberto Sangiovanni-Vincentelli, einem führenden Elektronik- und Computer-Wissenschaftler an der «University of California» in Berkeley, der mit seiner Arbeit wesentlich dazu beigetragen hat, dass die Chip-Herstellung in den 1980er-Jahren von der individuellen, manuellen Planung und Fertigung in eine höchstautomatisierte Produktion überging.

In einer gemeinsamen Studie diskutieren sie, wie das von Sangiovanni-Vincentelli entwickelte «Platform-based Design», das den Ausschlag für diese Entwicklung in der Chip-Industrie gegeben hat, auch auf die Planung von Energiesystem angewandt werden kann. Kernelemente dieses Konzepts sind verschiedene Abstraktionsebenen, auf denen Systeme ganzheitlich analysiert und optimiert werden, und die sich gegenseitig beeinflussen. Gleichzeitig werden auf jeder Ebene allgemeingültige, aber individuell kombinierbare Modelle geschaffen, die vorgeben, wie ein System zu spezifizieren und zu bauen ist.

«Bei der Planung von Gebäuden und Energiesystemen werden heute von Fall zu Fall neue Modelle erstellt, um das Bestehende oder Geplante besser zu verstehen und zu beurteilen», erklärt Michael Wetter und spricht dabei von einem wissenschaftlichen Umgang mit Modellen, in dem Modelle versuchen, das zu analysierende Objekt zu beschreiben. «Was wäre aber, wenn die Modelle nicht nur abbilden, wie ein Objekt sich verhalten wird, sondern auch spezifizieren wie ein Objekt gebaut werden soll? Somit wären Modelle die Blaupausen, die modulartig kombiniert werden können und das Design und die Funktionalität eines Systems eindeutig spezifizieren.» Dieses Umdenken hin zu einem eher ingenieurorientierten Umgang mit Modellen käme einem ersten Schritt in Richtung einer Transformation gleich, wie sie die Chip- oder Autoindustrie vor einigen Jahrzehnten durchlaufen hat, ist Sulzer überzeugt. «Dieser Paradigmenwechsel kann unsere Planungs-, Bau- und Betriebsprozesse revolutionieren und die Digitalisierung und Automatisierung fördern, die für das Erreichen unserer ehrgeizigen Dekarbonisierungsziele unerlässlich sind.»

Pilotprojekt an der Empa

Eine erste konkrete Anwendung findet das Konzept im EU-Projekt GOES («Geothermal-based Optimized Energy Systems»), das von der Empa geleitet wird und 2023 startete, teilt die Eidg. Materialprüfungs- und Forschungsanstalt mit. Ziel des Projekts ist es, anhand von Pilotanlagen – unter anderem auf dem Empa-Campus in Dübendorf – eine erste Anwendung für «Platform-based Design» zu entwickeln. Konkret bedeutet dies, dass die verschiedenen Abstraktionsebenen, auf denen die Entscheidungsfindung für die Gestaltung von urbanen Energiesystemen stattfindet, definiert und die Schnittstellen standardisiert werden sollen.

Ein Forschungsgegenstand – viele Forschungsperspektiven

Das neue Erdsondenfeld auf dem Empa-Campus, das die neuen Gebäude mit Wärme und Kälte versorgt, ist nicht nur eine Pilotanlage im EU-Projekt GOES, sondern auch Forschungsgegenstand des Projekts ARTS («Aquifer Reaction to Thermal Storage»). Im Zentrum von ARTS steht die Frage, wie sich der Einsatz von Erdsonden-Wärmespeichern auf das umliegende Erdreich, das Grundwasser und die darin lebenden Mikroorganismen auswirkt.

(Bild: pd)

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