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Im Rausch der Massnahmen

Gastronomie nur noch mit Zertifikat: Wir zerlegen eine Warnung in Einzelteile

Im Kanton St.Gallen wird geprüft, das Covid-Zertifikat auf Restaurants, Bars und Veranstaltungen auszudehnen. Faktisch dürfte der Entscheid bereits gefallen sein. Grund genug, ihn näher unter die Lupe zu nehmen. Zu was dient die Massnahme – und wem hilft sie wirklich?

Stefan Millius am 20. August 2021

Regierungen und Behörden sind ziemlich durchschaubar, weil sie immer nach demselben Muster agieren. Es wird angekündigt, etwas stehe in Prüfung, man beobachtet die Reaktionen, danach folgt eine Handlung. Erwartet man nicht gerade einen Volkssturm, setzt man danach um, was man zunächst als Option in den Raum gestellt hat.

Wenn der Kantonale Führungsstab des Kantons St.Gallen also schreibt, man überlege sich eine Ausweitung des Covid-Zertifikats auf die Gastronomie und Veranstaltungen, falls eine Überlastung der Spitalkapazitäten drohe, kann man getrost davon ausgehen, dass das nur die Ankündigung eines Schritts ist, der bereits geplant ist. Denn seit eineinhalb Jahren «droht» ja andauernd etwas. Ob das Angedrohte dann auch Realität wird, ist nicht so entscheidend. Die Überlastung des Gesundheitssystems funktioniert als Drohgebärde seit vielen Monaten, ohne eingetreten zu sein. Da kann man ruhig noch eine Extrarunde anhängen.

Aktuell sind die Intensivstationen der Schweiz bezüglich Covid-19-Patienten weit entfernt von den Höchstständen des letzten Winters und reichen auch noch nicht an die Werte des Frühjahrs heran. Die Grafik zeigt die Entwicklung seit März 2020.

Intensivstationen

Grafik: Bundesamt für Gesundheit

In Dunkelgrau die Zahl der Covid-Patienten, hellblau «andere» Intensivfälle, in hellem Grau die freien Betten. Allerdings, wie wir wissen, basierend auf den etwas über 800 Intensivpflegebetten, die man uns noch gelassen hat für die Statistik, nachdem es vor Corona einst mal fast doppelt so viele waren und die Zahl der einsetzbaren Betten künstlich heruntergeschraubt wurde. Die Grafik zeigt, wie seit langem, nicht die wirklich verfügbaren Kapazitäten.

Nun die Grafik für den Kanton St.Gallen:

Intensivbetten SG

Grafik: sg.ch

Die teilweise beeindruckenden Ausschläge in Blau zeigen Patienten mit dem Coronavirus, die nicht auf einer Intensivstation gepflegt werden. Orange beinhaltet die Fälle von Patienten in Intensivpflege, aber ohne Beatmung, rot mit Beatmung. Aktuell befinden sich sich im Kanton St.Gallen 54 Patienten mit positivem Nachweis von Covid-19 in Spitalpflege, 12 davon in Intensivpflege, 11 davon mit Beatmung.

Aber die Zahlen sind ja nicht entscheidend, nur die Frage, ob eine Linie über einen bestimmten Zeitraum nach oben geht oder nach unten. Das ist die Messlatte des Kantonalen Führungsstabs. In den «wildesten» Zeiten meldeten die St.Galler Spitäler über 180 Covid-Patienten und über 30, die künstlich beatmet werden mussten. Das bedeutete Stress für die Leute an und in den Betten, ja. Aber es war niemals eine Überlastung des Gesundheitssystems. Eine solche hätte die sogenannte Triage nötig gemacht. Das ist, wenn Ärzte ein bisschen Gott spielen müssen: Noch ein freies Bett, aber zwei dem Tode nahende Patienten – und nun muss man wählen, wer es kriegt. Das will niemand.

Und das hatte auch niemand. Wir standen nie vor dieser Situation. Hätten wir das getan, so wüssten wir es. Es wäre uns wochenlang medial um die Ohren gehauen worden. Aber es war schlicht nie der Fall, und wir sind auch jetzt weit davon entfernt.

Aber das ist nicht wichtig. Wichtig ist nur: Die Impfung. Die Impfbereitschaft. Flächendeckend heisst es aktuell auf Plakaten: «Nicht verpassen. Impfen lassen.» Dazu sehen wir eine Frau, die in Richtung eines Impfzentrums rennt, sie hat es sichtlich eilig, ein bisschen, als wäre ihr der Leibhaftige auf den Fersen. Und immer noch wollen nicht genügend Leute dieser Frau nachrennen. Also braucht es mehr. Viel mehr. Auch wenn, Fussnote der Geschichte, Geimpfte ja bekanntlich keineswegs davor gefeit sind, das Virus weiterzugeben. Technisch betrachtet sind auch sie «Gefährder», aber in der aktuellen Lesart sind sie die Guten.

Jedenfalls braucht es mehr. Zum Beispiel die Androhung eines Lockdowns. Das Covid-Zertifikat für die Gastronomie soll dazu dienen, diesen zu verhindern, sagt uns der Führungsstab. Eine Mehrheit der Leute wird nun denken: Wir wollen keinen Lockdown, also ist das das geringere Übel, führt das Gastro-Zertifikat ein, gut ist.

Dass Lockdowns in den letzten Monaten Mal für Mal in Studien als untaugliche Massnahme enttarnt wurden: Keiner erinnert sich daran. Dass die Schliessung der Gastronomie nie als wirksame Massnahme verifiziert beziehungsweise Restaurants nie beweisbar als Virenverbreiter gedient haben: Keiner erinnert sich daran. Man erhält einfach die Wahl: Restaurants nur noch für 3G-Menschen, sonst kommt der Lockdown. Und wir sind längst zu einer Gesellschaft mutiert, die das geringere Übel als eine Art Paradies empfindet.

Wobei 3G bald Geschichte ist. Das mit dem «Genesen» ist zu vergessen. Wer Pech hatte, das Virus «zu früh» einzufangen, gilt längst wieder als gefährlich. Auch der Nachweis von Antikörpern wird nicht weiter ernst genommen, wie viele Erlebnisse von Lesern in Spitälern dokumentieren. «Getestet» ist ein Auslaufmodell, weil man für Tests bald bezahlen muss, und wer würde das ernsthaft tun und bezahlen, um ein Feierabendbier trinken zu können? Es bleibt also nur die Impfung, um kostenlos auf der sicheren Seite zu stehen.

Und genau das soll auch so sein. Man bepflastert die Schweiz nicht mit einer teuren Plakatkampagne, um den Rest dem Zufall zu überlassen. Niemand geht zur Impfung, nur weil er ein Plakat sieht. Aber viele werden sich bald impfen lassen, wenn sie sonst nicht mehr ins Restaurant oder in eine Bar gehen können. Das ist das Kalkül. Und mit den Erfahrungswerten der letzten Monate ausgestattet darf man sagen: Die Rechnung wird aufgehen.

Auch dank der Drohung mit Lockdowns, die noch nie etwas genützt haben. Es ist ein bisschen, als würde man seinem Kind sagen: «Mach endlich die Hausaufgaben, sonst musst du ab sofort die ganze Woche eine Stunde früher ins Bett!» Natürlich kann man dieses Regime durchziehen und das Kind früher ins Bett schicken, aber die Hausaufgaben sind dann immer noch nicht gemacht. Man hat ein Signal gesetzt, aber das Problem nicht gelöst. Lockdown in Reinkultur.

Es gibt die Redewendung «den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen». Hier steht ein ganzer Regenwald aus lauter offensichtlichen Tatsachen. Das Gesundheitssystem wird wieder nicht überlastet sein; die angedrohten Lockdowns tun nichts für die Volksgesundheit; das 3G-Zertifikat heisst nur so, wird aber in der faktischen Auslegung zum 1G-Zertifikat; alles dient nur der Erhöhung der Impfbereitschaft.

Das alles kann man sehen, man müsste es sogar sehen, der Wald ist unübersehbar, aber eben: Zu viele Bäume.

Der Kanton St.Gallen in Form des Kantonalen Führungsstabs hat seine Drohgebärde abgeliefert. Die Nachlieferung wird die Entscheidung sein, den Besuch der Gastronomie und jeder Art von Veranstaltung nur noch «Zertifizierten» zu ermöglichen. Nur so lässt sich ein Teil der Bastion knacken, die sich immer noch nicht impfen lassen will.

Die Frage ist, wie viele selbst dann noch standhaft bleiben und nicht zur Impfung gehen. Und ob es dann aus Sicht des Staates nötig sein wird, noch mehr zu tun, um die gewünschte Quote zu erreichen. Die «SonntagsZeitung» befand ja bereits, man müsse zu «allen erdenklichen Mitteln» greifen, um Menschen zu impfen.

Solche Worte sind schnell geschrieben. Aber wenn man darüber nachdenkt: «Alles Erdenkliche» ist wirklich verdammt viel.

*Nachtrag: Inzwischen hat der St.Galler Gesundheitsdirektor das mögliche Vorhaben im «Blick» verteidigt. Er benutzt als Argumentation die exakt identischen Zahlen, die wir oben verwendet haben.

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Autor/in
Stefan Millius

Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.

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