Wil stand lange im Ruf einer konservativen CVP-Hochburg. Vor 50 Jahren begann der Aufstand gegen das als beengend empfundene gesellschaftliche Klima. Die Auseinandersetzungen haben die Stadt nachhaltig verändert.
Eine neue Protestpartei, spektakuläre Kunstaktionen und heftige Kontroversen um Festivals führten zur mentalitätsmässigen Öffnung der Äbtestadt. Diese Phase der Stadtentwicklung wird gelegentlich als Wils wilde Jahre bezeichnet.
Laut den Historikern Verena Rothenbühler und Oliver Schneider, machte sich in den 1960er-Jahren in Westeuropa eine gesellschaftliche Aufbruchstimmung bemerkbar. Die Akteure übten Kritik an den bestehenden sozialen und politischen Verhältnissen.
«In der Stadt Wil formierte sich eine soziale Bewegung, als junge Frauen und Männer ab Mitte der 1970er-Jahre kulturelle Teilhabe am städtischen Lebensraum forderten», schreiben die beiden Autoren in der neuen Wiler Stadtchronik von 2020. Durch die geburtenstarken Jahrgänge nach dem Zweiten Weltkrieg war die junge Generation damals gross.
Aufruhr um Rock- und Bluesklänge
In der Phase des angespannten Verhältnisses zwischen konservativen und rebellischen Kreisen, gründeten einige junge Menschen in Wil den Verein Pankraz. Zwischen 1980 und 1985 organisierte er auf dem Hofplatz vier Mal Open-Air-Festivals. Die Veranstaltungen seien zu Projektionsflächen des Geneartionenkonflikts geworden, schreiben Rothenbühler und Schneider.
In den Leserbriefspalten entbrannten während Wochen heftige Kontroversen. Auslöser war die Bewilligung einer zweiten Durchführung eines Festivals vor dem Hof, Kernsymbol der Wiler Identität. Vor diesem ehrfurchteinflössenden Gebäude sollten Rock- und Bluesmusiker auftreten. Empörte Bürger sahen im Kulturevent die inakzeptable Förderung des Drogenhandels in der Wiler Altstadt.
1981 forderte ein Leserbriefautor die Bürgerinnen und Bürger zwischen St. Gallen und Elgg auf, Kesselpauken, Pfannendeckel, Pfeifen und Trommeln mitbringen. Auch der Einsatz von Stinkbomben wurde als letztes Mittel nicht ausgeschlossen.
Abzuwehren galt es das «Alternativ-Kultur-Gelichter mit seinem ohrenbetäubenden Gebrüll und Mestizengeschrei, 13fach verstärkt und begleitet von brechreizendem atonalem Pumpum-Pumpum-Pum». Dieses sei mit allen Mitteln zu verhindern. «Wenn die zuständigen Behörden nicht mehr willens und imstande sind, für Wahrung des einfachsten Anstandes hier oben zu sorgen, bleibt uns nur noch die handfeste Notwehr übrig.»
Wogen sind verebbt
Trotz Aufrufen zum aktiven Widerstand, verlief der Anlass ohne nennenswerte Zwischenfälle. Dass die Events ausgerechnet im ältesten Quartier Wils stattfanden, ist für die Rothenbühler und Schneider kein Zufall. Die damals jungen Menschen wollten an einem prominenten Ort nachdrücklich auf ihr Bedürfnis nach kulturellen Entfaltungsräumen hinweisen.
Anzumerken bleibt: Wenn sich heute – 40 Jahre später – alljährlich viele Menschen aus allen Generationen in Wil friedlich zum Musikfestival Rock am Weier zusammenfinden, ist kaum mehr vorstellbar, dass ein derartiger Anlass einst den Aufruf zur Bildung einer Bürgerwehr auslöste.
Verhüllte Skulptur
Wechsel des Schauplatzes: Der erste Auftritt der Ostschweizer Künstlergruppe Ohm 41 vor 25 Jahren war unübersehbar. In einer Überraschungsaktion verhüllte sie eine Betonskulptur auf dem Wiler Bahnhofplatz. Die mannshohen sogenannten «winkenden Indianer» waren der Stadt kurz zuvor von einer Beton- und Kiesfirma spendiert worden.
Offiziell hiess die Arbeit vom Bildhauer Carlo Crameri «Welcome». Das Kunstwerk löste damals bei der Bevölkerung kontroverse Diskussionen aus. Schliesslich wurde sie entfernt. Die Künstlergruppe klagte, die Stadt sei eine kulturelle Ödnis; ihre Kulturpolitik werde von einem Betonunternehmen diktiert.
Satire als Ausdrucksmittel
Die damalige Aktion war der Auftakt zu verschiedenen weiteren Kunstereignissen. Bis heute tritt die Gruppe in regelmässigen Abständen an verschiedenen Orten in der Ostschweiz mit Provokationen und Verballhornungen an die Öffentlichkeit. Als sie beispielsweise den Fluss Necker rot färben wollte, um auf das anhaltende Flüchtlingselend im Mittelmeer hinzuweisen, rief sie damit die Polizei sowie die TV-Kameras auf den Plan.
Man wende sich mit Kunst gegen etablierte gesellschaftliche Zustände, definiert die Gruppe ihre Aktivitäten. Damit reiht sie sich in die Stilrichtung des 1915 gegründeten Dadaismus sein, der Satire und Nonsens als künstlerische Ausdrucksformen nutzt, um gesellschaftliche Mechanismen der Lächerlichkeit preis zugeben.
Grotesker Wahlkampf
Satire kennzeichnete 1988 auch den Wahlkampf einiger Aktivisten der Wiler Kreativszene. Sie entstammten der Community, die sich für ein alternatives Kulturzentrum einsetzte. Zwar hatte Stadt Wil 1979 in der historischen Oberen Mühle ein Freizeitzentrum für alle Schichten und Generationen eingerichtet. Mit seiner Betriebskommission und einem Hausleiter entsprach es nicht den Bedürfnissen zahlreicher damals junger Wilerinnen und Wiler, sie verlangten nach einem selbstverwalteten Zentrum.
Nach einer längeren Phase von öffentlichen Protesten und politischen Querelen konnte schliesslich 1989 ein ehemaliger Bahnschuppen mit Unterstützung der Stadt und des Gewerbes als Lokal für unterschiedliche Musikstile eingerichtet werden. Seit 2008 nennt er sich Gare de Lion und hat sich mit seinem breitgefächerten Eventangebot überregional guten Ruf geschaffen. Längst mieten es auch Akteure aus der Wirtschaft und der Politik für ihre Events.
Ehemalige Oppositionspartei
In der Phase des Aufbrechens der traditionellen gesellschaftlichen Strukturen, entstand 1984 in Wil eine neue politische Gruppierung. Sie nannte sich Prowil und engagierte sich für ökologische und kulturelle Projekte. Rund 15 Mitglieder umfasste die anfänglich lose Gemeinschaft, die im damals neuen bürgerlich dominierten Stadtparlament Einfluss nehmen wollte. Ihre Voten und Vorstösse sorgten öfters für rote Köpfe und für gehässige Zeitungsbeiträge.
In den knapp 40 Jahren ihres Bestehens hat sich die Partei von einer betont oppositionellen Kraft zu einem mittlerweile anerkannten Teil des politischen Lebens in Wil gewandelt.
In der ursprünglichen Kleinpartei gab es Mitglieder, die sich nicht nur im lokalen Bereich, sondern auch auf kantonaler und eidgenössischer Ebene engagieren wollten, so schloss man sich der nationalen Grünen Partei an.
Mit der Wiler Ärztin Yvonne Gilli stellte die Partei ab 2004 eine Kantonsrätin, 2007 wurde sie in den Nationalrat gewählt. Nach ihrer parlamentarischen Tätigkeit leitet sie heute die gesamtschweizerische Ärzteorganisation FMH.
Fotonachweis: wilnet.ch, Wiler Jahrbuch, PD
Adrian Zeller (*1958) hat die St.Galler Schule für Journalismus absolviert. Er ist seit 1975 nebenberuflich, seit 1995 hauptberuflich journalistisch tätig. Zeller arbeitet für diverse Zeitschriften, Tageszeitungen und Internetportale. Er lebt in Wil.
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