Erneut gelten sehr einschränkende Restriktionen und Verbote aufgrund von Corona. Doch was bedeutet dies für den gesellschaftlichen Umgang mit Gesundheit? Wir haben uns aus soziologischer Sicht Überlegungen dazu gemacht.
Karl Marx bezeichnete in der 1843/44 verfassten Schrift Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie Religion als das Opium des Volkes. Vereinfacht gesagt führe Religion dazu, dass Menschen nicht mehr kritisch denken und blind einer Ideologie folgen, ohne diese kritisch zu hinterfragen – sie seien von der Religion benebelt, als wäre diese eine Droge. Religion, so Marx, sei als eine Verschleierung kapitalistischer Machtausübung zu verstehen.
Wir sind im Jahr 2020 und die Zeichen der Zeit haben sich stark verändert, aber die Art und Weise, wie Gesellschaft funktioniert, mag vielleicht in mancher Hinsicht ähnlich sein. Wir werfen deshalb die Frage auf, ob heute Gesundheit das neue Opium des Volkes ist. Gesellschaftliche Tendenzen zeigen klar: Wir möchten immer gesünder und länger leben, um jeden Preis leistungsfähig bleiben und alles dafür tun, möglichst nicht krank zu werden und somit der Arbeit nicht fern bleiben zu müssen.
Mit diversen Gesundheitsapps (z. B. Schritte zählen) haben wir den Anspruch, unsere Gesundheit zu messen resp. mit Daten zu quantifizieren. In Zusammenhang mit Corona hat sich der Fokus auf das «Um-jeden-Preis-gesund-bleiben-Wollen» um ein Vielfaches gesteigert. Es stellt sich nun die Frage, ob das sinnvoll ist und welche Gefahren ein solches Denkparadigma allenfalls mit sich bringt. Wir möchten die Verhältnismässigkeit der getroffenen Massnahmen in Frage stellen und zum Schaden-Nutzen-Denken anregen.
Zuerst wollen wir – in aller Kürze – einen Gesundheitsbegriff skizzieren. Gesundheit zu definieren ist grundsätzlich hoch komplex. Eine der wohl bekanntesten Definitionen von Gesundheit stammt von der Weltgesundheitsorganisation (WHO), wonach Gesundheit ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit ist. Und doch wird im Zuge aktueller Coronapolitik- und Massnahmen eine Ebene klar bevorzugt und in den Mittelpunkt gerückt – die akut-(bio-)medizinische, körperliche Ebene. Entweder jemand ist krank («hat Corona») oder gesund («hat kein Corona»).
Sämtliche vom Bund, den Kantonen, der Politik aufgegleisten und von den Bürger*innen umgesetzten Massnahmen gelten im Grunde einer Bekämpfung akuter, körperlicher Symptome. Ein Diskurs zu den psychischen Auswirkungen der Corona -Massnahmen (etwa Steigerung häuslicher Gewalt durch Home-Office und Quarantäne) wurde vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) bspw. erst rund 6 Monate nach dem sog. «Lockdown» partiell geführt und rollt auch jetzt nur sehr langsam an. Die Minderbewertung geistiger und sozialer Gesundheit aus Politik-Perspektive wird damit deutlich impliziert.
Als weiteres Beispiel: Der Bundesrat stützt sich grösstenteils auf Expert*innenmeinungen der BAG-eigenen Corona Task Force (1) . Von den 10 Mitgliedern des Leitungsteams und des Advisory Boards der Corona Task Force sind 7 aus dem (bio-)medizinischen Bereich, andere wissenschaftliche Disziplinen und Ansichten sind kaum vertreten (z. B. Sozialwissenschaften, Psychologie, Philosophie) oder unterrepräsentiert (u. a. Rechtswissenschaften, interdisziplinäre Wissenschaften).
Auch die 10 Expertengruppen der Task Force stammen fast alle aus dem Bereich der (bio-)medizinischen Perspektive, wobei akut-bekämpfende Massnahmen und deren Messinstrumentarien (statistische Zahlen und Modellierungen) im Vordergrund stehen und das wichtigste Ziel sind. Andere, bspw. gesundheitsförderliche Massnahmen im Zusammenhang mit der Pandemie (z. B. Aktivitäten zur Stärkung des Immunsystems), sind zweitrangig. Fragen der mentalen Gesundheit sowie des sozialen Umgangs mit Corona kommen grundsätzlich zu kurz.
Auch Fragen aus interdisziplinären Wissenschaften, die komplexe Antworten geben – etwa nach der Entstehung des Virus oder der Übertragbarkeit von Tier auf Mensch in Zusammenhang mit dem sog. «Global Warming» – werden, wenn überhaupt, nur am Rande diskutiert und medial verbreitet. Kritik kommt mittlerweile selbst aus dem (bio-)medizinischen System selber. So kritisierte u. a. Daniel Koch, der ehemalige Leiter der Abteilung Übertragbare Krankheiten vom BAG, die «alarmistischen Prognosen der Task Force» (2).
Im Folgenden stellen wir drei zentrale Phänomene dar, die aus unserer Sicht wichtig sind, um die Verhältnismässigkeit der Massnahmen zu diskutieren.
Kritik an der Medienberichterstattung
Die überwiegende Mehrheit der Presseberichte sowohl der grossen Tageszeitungen als auch lokaler Berichterstattungen schüren Angst, meistens ohne die zitierten Statistiken in einen Kontext zu stellen oder wissenschaftlich zu begründen und zu interpretieren. Fast unisono wird dieselbe Meinung publiziert, es wird oft tendenziös geschrieben, und Meinungsvielfalt sowie unabhängiger Journalismus sind kaum mehr vorhanden.
Dies ist gefährlich, da es den Leserinnen und Lesern dadurch erschwert wird, sich eine eigene kritische Meinung zu bilden. Selbst das Jahrbuch «Qualität der Medien 2020» (3) vom Forschungsinstitut Öffentlichkeit und Gesellschaft der Universität Zürich kritisiert den Journalismus: „Bemängeln muss man auch den Umgang mit Zahlen und Statistiken. Zwar haben einzelne Redaktionen diesbezüglich gut gearbeitet, gesamthaft aber erfolgte der Umgang mit Zahlen zu wenig einordnend und zu wenig kritisch-distanziert. Mehrere Medien haben Zahlen und Statistiken oft ‘nackt’ vermeldet, ohne diese weiter zu erklären oder einzuordnen.“
Ein paar wenige Berichte stehen der Verhältnismässigkeit der Massnahmen und dem gesamten Diskurs allerdings auch kritisch gegenüber. So zeigen sich bspw. Fachärztinnen für Kinder und Jugendmedizin in der ARTE-Doku «Corona: Deutsche, Franzosen und Schweden in der Krise» (4) besorgt darüber, dass wir Kinder dazu erziehen, sich selber als potentielle Gefährder*innen zu erziehen, die stets Angst haben müssen, andere Menschen «krank zu machen». Aus psychologischer Sicht sei es ungesund, in diesem Ausmass Angst zu schüren.
Doch grundsätzlich gilt: Wer eine andere Meinung als die Mehrheit hat, wird schnell als Corona-Leugnerin (vgl. Holocaust-Leugnerin – eine übrigens mehr als gefährliche Analogie), Covidiot oder Verschwörungstheoretikerin beschimpft. Die Meinungsfreiheit wird durch solche Aussagen stark bedroht, und das ist für unsere Demokratie fatal.
Verhältnismässigkeit der Corona-Massnahmen
Weltweit steigen wegen der Corona-Massnahmen die Armut und die Bildungsungleichheit sowie die häusliche Gewalt (5) . Darüber hinaus haben psychische Belastungen, Störungen und Erkrankungen zugenommen (6). Es gibt erste Studien die zeigen, dass durch die Massnahmen verursachte Arbeitslosigkeit sowie Isolation vom sozialen Umfeld die Suizidrate sowie auch die psychiatrischen Akutfälle erhöht hat (7).
Des Weiteren wird das Freizeitleben durch das Clubverbot, die Sperrstunde sowie die Maskenpflicht an allen öffentlichen Orten so stark eingeschränkt, dass es de facto nicht mehr stattfinden kann (resp. direkt verboten wird). Lebensqualität ist aber gerade für die psychische Gesundheit und die soziale Kohäsion zentral, und sie trägt im weiteren Sinn auch zur körperlichen Gesundheit bei.
Auch sind berufliche Identitäten von Tanz- und Konzert-Veranstalterinnen sowie Künstlerinnen durch die Einschränkungen existentiell bedroht. Viele stehen bereits jetzt vor dem finanziellen Ruin und werden idR nicht oder nur ungenügend vom Staat unterstützt.
Messungen und Kennzahlen
Alles wird heute mit Zahlen gemessen und quantifiziert. Wenn dies so gemacht wird, müssen die Zahlen korrekt und vor allem im Kontext betrachtet werden. Beispielsweise sagt es nichts aus, alleine die steigenden Fallzahlen zu zeigen, ohne diese dabei in einen Kontext zu stellen (u. a. im Vergleich mit vorangegangenen Jahren). Folgende Punkt sind zu beachten und werden bislang vernachlässigt:
1) Der PCR-Test ist nicht 100% valide: Der Test misst nicht, was er messen sollte. Grund: Er misst Fragmente von Covid-19. Das bedeutet, er kann auch ein positives Testresultat ergeben, wenn jemand Corona in der Vergangenheit hatte und jetzt weder Symptome hat noch ansteckend ist (8). Ebenso weist der PCR-Test lediglich die inaktiven kurzen RNA-Bruchstücke nach, was zu einer Überschätzung effektiv infizierter Personen führt. Aufgrund dieser Messungenauigkeiten haben portugiesische Gerichte unter Berufung der Studie von Rita Jaafar et al. (2020) (9) beschlossen, dass der PCR-Test nicht aussagekräftig sei und aufgrund des Tests keine Entscheidungen, die die öffentliche Gesundheit anbelangen, getroffen werden dürfen, da die Wahrscheinlichkeit für eine Falschaussage viel zu hoch sei.
2) Hospitalisierungen: Die Zahl der Neuansteckungen muss im Zusammenhang mit den Hospitalisierungen gesehen werden, denn alleine betrachtet ist sie – u. a. aufgrund der Unsicherheit der Testungen (PCR) – wenig aussagekräftig. So ist beispielsweise die Auslastung der Spitalbetten auf Intensivstationen in der Schweiz seit Beginn der Corona-Lage weitgehend stabil, zu jedem Zeitpunkt waren zwischen ca. 250 und 500 bzw. mindestens 25% der Spitalbetten frei (Corona und Non-Corona). Auch war es während des Lockdowns im Frühling 2020 in kürzester Zeit möglich, die Anzahl Spitalbetten von gut 1200 auf rund 1600 zu erhöhen. Die Grafik zur Auslastung der Betten auf der Intensivstation ist in der Verlinkung der Fussnote zu finden (10).
3) Todesfälle: In vielen Fällen ist es so, dass Menschen, die in der Statistik als «Corona-Tote» aufgeführt werden, noch andere (Vor-)Erkrankungen hatten. Dies führt zu einer Statistik-Verzerrung: Personen, die bspw. an Krebs gestorben sind und auch Corona-positiv getestet wurden, gelten als Corona-Tote (11). Zudem gibt es eine hohe Dunkelziffer an Personen, die keine oder keine starken Symptome haben, also keinen Arzt/keine Ärztin aufsuchen und so in keiner Statistik auftauchen.
Verweise:
1 Swiss National Covid-19 Science Task Force
3 Forschungszentrum Öffentlichkeit und Gesellschaft (2020)
5 Armut; Bildungsungleichheit: für Deutschland hier und hier; Häusliche Gewalt: «Die Krise verschärft Familienkonflikte» (Tagesanzeiger Printausgabe, 2.11.2020, S. 17)
6 Serafini, G. et al. (2020). The psychological impact of COVID-19 on the mental health in the general population. An International Journal of Medicine, 113/8
7 Sher, L. (2020). The impact of the COVID-19 pandemic on suicide rates. An International Journal of Medicine, 113/8
8 Jefferson et al. (2020). Viral cultures for COVID-19 infectious potential assessment – a systematic review, Clinical Infectious Diseases, ciaa1764,
9 Jaafar, R. et. al. (2020). Correlation Between 3790 Quantitative Polymerase Chain Reaction–Positives Samples and Positive Cell Cultures, Including 1941 Severe Acute Respiratory Syndrome Coronavirus 2 Isolates, Clinical Infectious Diseases,
10 Tabelle
11 vgl. hier und Film «Unerhört»
Nicolette Seiterle (1984) und Dominik Robin (1983) arbeiten beide als Soziologen und wissenschaftliche Mitarbeitende in der Forschung. Seiterle ist auf den Themenbereich Kindesschutz und Familieforschung spezialisiert, Robin auf den Bereich mentale Gesundheit.
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