Schlangen, Geckos, Bartagamen: Was bei vielen für eine Gänsehaut sorgt, ist die grosse Leidenschaft von Silvia Bruderer. Sie betreibt die Reptilienauffangstation in Heiden. Welche Auswirkungen Gratis-Inserate und «Jö-Effekte» für ihre Arbeit bedeuten.
Gerade jetzt in der Sommerzeit sind die «normalen» Tierheime häufig überfüllt. Wie sieht es bei euch aus? Sind die Besitzer ihrer Tiere ebenfalls «überdrüssig»?
Wir sehen da tatsächlich wenig Tendenzen zu anderen Tierheimen oder Tierarten. Weder während Corona noch in gewissen Jahreszeiten haben wir mehr oder weniger Anfragen zur Abgabe von Reptilien. Häufig wird als Grund ein Umzug angegeben.
Du hast angefangen, weil viele Tiere schlichtweg falsch gehalten werden. Wird dieses Problem unter anderem auch durch die sozialen Medien gefördert, weil die Tiere schön anzusehen, jedoch aufwendig in ihrer Haltung sind?
Was mir sehr negativ im Kopf geblieben ist, ist die Werbung der Post. Es wurde eine Bartagame ausserhalb des Terrariums gezeigt, welche als Futter eine Schale Pellets vorgesetzt bekommen hat. Bartagamen sind ausserhalb des Terrariums sehr anfällig, krank zu werden. Zudem haben Pellets absolut nichts mit der artgerechten Fütterung zu tun. So wird schnell ein falsches Bild an die Bevölkerung vermittelt, und die Bedürfnisse der Tiere nicht anerkannt. Auch in Filmen und Serien sind immer öfter Reptilien zu sehen, die definitiv völlig falsch dargestellt werden. Das birgt sicher das Risiko des «Jö-Effekts» und der falschen Erwartungshaltungen. Bei den sozialen Medien fallen mir aber nicht direkt «Pet-Fluencer» Reptilien ein. Sicher gibt es hier aber auch hier negative Beispiele.
Welches sind denn die Gründe, die besagten Umzüge ausgenomme, weshalb die Tiere bei euch landen?
Da die Plätze knapp sind, nehmen wir keine Reptilien auf, nur weil der Halter umzieht oder einfach keine Lust mehr auf sie hat. Auch andere Tierheime sind überfüllt, deshalb raten wir jeweils, sich selbst nach einem neuen Zuhause umzusehen – schliesslich haben die Halter beim Kauf des Tieres die Verantwortung übernommen und sind nun auch in der Pflicht. Die meisten unserer Reptilien stammen aus Übernahmen von verschiedenen Veterinärämtern, Fundtiere, Übernahmen wegen Tod des Besitzers oder aktuell auch vermehrt, weil die Halter der Tiere ins Pflegeheim müssen und die Reptilien somit ihr langjähriges Zuhause verlieren. Wir behalten ebenfalls die Gratis-Inserate im Auge. Wenn uns Reptilien in sehr schlechtem gesundheitlichem Zustand auffallen, versuchen wir diesen zu helfen.
Viele ekeln sich vor Reptilien. Weshalb ist es bei dir anders?
Woher das kommt, kann ich tatsächlich nicht genau sagen. Wir sind in der Nähe eines Waldes aufgewachsen. Bereits als Kinder retteten wir Vögel, Mäuse und eben auch Blindschleichen, Eidechsen und Frösche vor den Nachbarskatzen oder anderen Gefahren. Ich hatte noch nie ein Ekelgefühl vor Tieren, im Kindergarten rettete ich auch Regenwürmer von der Strasse. Viele Ängste oder auch Ekel werden Kindern durch ihre Eltern oder das enge Umfeld mitgegeben. Wenn man beispielsweise in einem Zoo die Schlangen bestaunt, und es plötzlich von einem Erwachsenen heisst «Die beisst dich!», weckt das Ängste, die absolut unbegründet sind. Reptilien können aufgrund der begrenzten Mimik schlecht eingeschätzt werden – was man nicht kennt, fürchtet man. Schlangen sind keine bösen Killer, wie sie in Filmen gerne gezeigt werden. Auch hört man öfter, dass Schlangen glitschig sein sollen. Dem ist überhaupt nicht so. Es wäre daher sicher hilfreich, wenn die Erwachsenen den Kindern keine Fehlinformationen mitgeben – wenn man die Fakten nicht genau kennt, sollte man das auch zugeben und sich allenfalls gemeinsam mit dem Kind informieren. So lernen alle etwas dazu und es entstehen keine Vorurteile aufgrund falscher Tatsachen.
Dein Job verlangt deinen Einsatz rund um die Uhr. Woher nimmst du deine Motivation und Leidenschaft?
Das Tierwohl lag mir schon immer am Herzen. Zu wissen, dass gerade Reptilien hier wenig Unterstützung haben, ist ein grosser Antrieb. Wenn wir es nicht tun, wer macht es dann? Solange es keine besseren und grösseren Lösungen in der Schweiz gibt, um Reptilien «auffangen» zu können, tun wir unser Bestes, um wenigstens einem kleinen Teil helfen zu können. Reptilien sind eben nicht gleich Reptilien, jede Art hat seine ganz eigenen Bedürfnisse, was die Haltung und Ernährungsweisen betrifft. Das setzt eine Menge Wissen und Erfahrung voraus. Immer öfter werden Reptilien in «normalen» Tierheimen integriert – das ist einerseits eine schöne Entwicklung, andererseits merkt man, dass das nötige Wissen nicht ausreicht, um ihnen wirklich das bieten zu können, was sie verdient haben und brauchen. Ich werde also so lange nicht ruhig schlafen können, bis ich weiss, dass sich jemand um die Problematik kümmert, der wirklich weiss, wie es geht. Die Pflege, gerade bei kranken Tieren, verlangt einem auch emotional viel ab. Eine der grössten Motivationen ist, wenn man sieht, wie sich ein Reptil bei uns erholt und schliesslich ein perfektes neues Zuhause findet, wo es endlich so leben kann, wie es immer hätte sein müssen. Auch zu wissen, dass ich dank unserem wundervollen Team nicht allein kämpfe, gibt mir viel Stärke.
Ihr finanziert euch vollumfänglich über Spenden. Sind die Kosten gleichzeitig auch die grössten Herausforderungen in eurem täglichen Geschäft?
Dank unseren vielen tollen Pat:innen und weiteren Unterstützer:innen haben wir zum Glück keine grossen Geldnöte. Klar, wir haben nicht einige Tausend Franken auf der Seite – aber das, was wir haben, reicht, um die laufenden Kosten tragen zu können. Sollten wir einmal grössere Projekte in Angriff nehmen wollen, dann werden wir auch dafür sicherlich Wege finden. Als die grösste Herausforderung empfinde ich eher, dass man mit Tieren nie weiss, was der Tag bringt: Ob man nun überraschend kurzfristig ein neues Tier übernehmen muss oder sogar eine grössere Anzahl. Wenn es den Reptilien viel schlechter geht, als erwartet und man viele Stunden im Auto und in Kliniken verbringt, um ihr Leben zu retten. Und dann zuhause sehr eingespannt ist mit der medizinisch aufwändigen Versorgung oder Fütterung. Man muss sehr flexibel und belastbar sein, um den Alltag im Tierschutz stemmen zu können.
An welches Tier oder Geschichte magst du dich noch besonders erinnern?
Über die Jahre sind mir so viele Geschichten geblieben, solche mit Happyend, aber auch jene, bei denen ich vor Verzweiflung und Wut laut schreien könnte. Das Leid der Tiere ist schwer zu ertragen, erst recht, wenn man weiss, dass es mit dem nötigen Wissen hätte verhindert werden können. Der schockierendste Fall war sicher Bahati, ein Bartagamen Männchen. Wir waren mit unserem Infostand an einer Reptilienbörse. Gegen Ende des Nachmittags kam ein Mann an unseren Stand gestürmt mit einer leblosen Bartagame auf der Hand, die nur Haut und Knochen und völlig verstümmelt war. Er hatte ihn auf dem Parkplatz im Gebüsch gefunden – bei eisigen Temperaturen. Ich fragte ihn schockiert, ob er denn überhaupt noch lebe. In diesem Moment zuckte das Beinchen und wir rannten sofort in alle Richtungen los. Unter den ausgestellten Wärmelampen konnten wir ihn langsam aufwärmen und haben ihm Flüssigkeit eingegeben. Bahati war eigentlich nur noch ein Skelett mit abgebissenen Zehen. Doch als er die Augen endlich öffnete, sah ich einen starken Überlebenswillen. Wir kämpften uns durch mit Flüssignahrung, Medikamenten, Entwurmung und Bädern. Leider kam heraus, dass er das Adenovirus in sich trug, das erschwerte eine mögliche Genesung und Vermittlung zusätzlich. Bahati brauchte sehr viel Unterstützung und Pflege. Da er sich zwar erholte, aber nicht vollständig, entschieden wir, ihn zu behalten. Er lebte noch etwa ein Jahr bei uns und machte uns trotzdem jeden Tag Freude mit seiner vorwitzigen Art. Doch dann brach das Adenovirus aus und er verstarb innert kurzer Zeit. Bahati ist nur ein Beispiel von so vielen traurigen Schicksalen, die bei uns landen.
Weshalb ist Bahati überhaupt im Gebüsch gelandet?
Das haben wir uns auch gefragt. Wollte der Besitzer sich sogar Hilfe holen und machte in der letzten Sekunde einen Rückzieher? Oder meinte man, er sei auf der Fahrt verstorben und warf ihn dann einfach weg? Solche Fragen zur Vorgeschichte unserer Reptilien kommen immer wieder auf, aber nur selten erhalten wir eine Antwort. Ihr neues Leben beginnt ab dem Zeitpunkt, wo sie bei uns eintreffen. Dann geben wir alles, um ihnen zu helfen und sie ein anständiges Leben führen können. Sie sollen nur einmal erfahren, wie es ist, wenn man nicht im Stich gelassen wird.
Die letzten Monate und Jahre waren für viele nicht einfach. Wie seid ihr durch die Krise gekommen?
Wir wurden oft angefragt, ob Corona einen Einfluss auf die Nachfrage hatte. Einen grossen Vergleich zu vorher haben wir jedoch nicht, wir haben mit der Auffangstation Anfang 2019 begonnen. Wir konnten keine direkten Einflüsse der Corona Krise bei uns feststellen. Auch, als die Energiekosten stiegen, hatten wir keine Existenzängste. Da die Reptilien auf mehrere Standorte, also Pflegestellen, aufgeteilt sind, hat jeder Haushalt seine eigenen Stromkosten. Viele im Team bezahlen neben ihrer gemeinnützigen Arbeit kleinere Beträge und den Strom aus eigener Tasche. Auch haben wir nicht hunderte Tiere zu versorgen, so halten sich die zusätzlichen Kosten in Grenzen.
Was wird euch die nächsten Monate besonders beschäftigen? Oder gibt es ein bestimmtes Ziel, das du erreichen willst?
Unsere Aufnahmekapazitäten sind noch nicht ganz ausgeschöpft. Wir möchten daher in den nächsten Monaten sicher noch weitere zuverlässige und langfristige Pflegestellen dazugewinnen. Das ist ein grösserer Aufwand, weil wir diese natürlich auf Herz und Nieren prüfen, bevor Pflegetiere einziehen. Auch die Betreuung der Pflegestellen, die Beantwortung von Fragen und der bürokratische Aufwand der gesamten Organisation sind nicht zu unterschätzen. Aktuell beschäftigt uns immer wieder, dass Riesenschlangen von vielen Stationen und Tierheimen nicht untergebracht werden können. Die Plätze dafür sind sehr begrenzt oder nicht wirklich vorhanden. Wir möchten uns darauf konzentrieren, eine Lösung zu finden. Ob dies intern oder extern sein wird, ist noch offen. Bei einer internen Lösung würden wir sicher zusätzliche Mittel benötigen, um die Unterbringung und Betreuung der Tiere realisieren zu können. Aber es darf auf keinen Fall sein, dass Schlangen nur aufgrund ihrer Grösse euthanasiert werden. Die Schweiz hat zugelassen, dass so grosse Tiere ohne Bewilligung gehalten werden dürfen – somit muss auch eine akzeptable Lösung gefunden werden, um diese in der Not unterbringen zu können.
Manuela Bruhin (*1984) ist Redaktorin von «Die Ostschweiz».
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