Jolanda Spiess-Hegglin war gerade an der HSG eingeladen, als Spezialistin für «digitale Gewalt». Da hätte sie in eigener Sache aus dem Nähkästchen plaudern können.
Es ist organisierte Hetze. Ende April 2020 eröffnete Jolanda Spiess-Hegglin (JSH) einen Chatroom und lud zwei Dutzend gleichgesinnte Teilnehmerinnen ein. Gemeinsame Absicht: die Publikation des Buchs von Michèle Binswanger über die Hintergründe der Zuger Landammannfeier zu verhindern. Mit allen Mitteln. Insbesondere mit Shitstorms, Provokationen aus Fake-Accounts und mit inszenierten Kampagnen gegen die Autorin.
Das belegen die Chat-Protokolle, in die ein Investigativ-Team Einblick nehmen konnte. Sie dokumentieren, was JSH «die kleine Drecksarbeit» nennt.
Am 28. April 2020 eröffnete sie diesen Chatroom: «Ich werde jetzt noch ein paar Frauen dazuholen». Dazu gehörten die Bloggerin Kafi Freitag, die damalige Netzcourage-Präsidentin Liliane Ritzi, die Politikerinnen Sibel Arslan (Grüne-Nationalrätin), Tamara Funiciello (SP-Nationalrätin, bis zum abrupten Rücktritt Co-Vereinspräsidentin von Netzcourage), Samira Marti (SP), Aline Trede (Fraktionsvorsitzende der Grünen im Nationalrat), aber auch Franziska Schutzbach, feministische Forscherin, oder Agota Lavoyer, selbsternannte Spezialistin für antifeministischen Hass. Sogar «Journalistinnen» wie Miriam Suter machten mit.
Im Hintergrund wirkte der ehemalige publizistische Leiter von CH Media, Pascal Hollenstein, dessen Rolle als Lautsprecher von Spiess-Hegglin ihn nicht zuletzt seine Stellung kostete. Eine ganz besondere Rolle als Mastermind spielt Hansi Voigt, der mehrfach gescheiterte Internetjournalist und aktuelle Chef von «bajour». Schon bevor er nach den Rücktritten seiner Vorgängerinnen Präsident des Vereins Netzcourage wurde, zog er hier die Fäden.
Die gemeinsame Absicht wurde von Spiess-Hegglin am Anfang klar formuliert: «Unser Ziel muss sein, dass sie als Journalistin auswandern kann.» Das Nahziel war, die Veröffentlichung des Buchs zu verhindern. Nicht etwa mit einer offenen Auseinandersetzung oder einer Debatte. Sondern mit orchestrierten Schmutzkampagnen gegen die Autorin, mit Forderungsschreiben, die sich an ihre Vorgesetzten richteten.
Dabei schreckte man auch vor absurden Verschwörungstheorien nicht zurück: «Es ist wirklich sehr wahrscheinlich, dass dieses Buch ein Tamedia-Freundschaftsdienst an Ringier ist», behauptet Spiess-Hegglin. Über die Strategie ist man sich nicht ganz einig. Während JSH immer für offensives Vorgehen ist und auch beispielsweise Hollenstein instrumentalisieren will, indem der mal wieder einen Artikel gegen Binswanger schreiben soll, sind Schutzbach oder Kafi Freitag eher dafür, den Ball flach zu halten, damit Binswanger nicht noch mehr Aufmerksamkeit erfährt.
Die Aktionen wurden mit entsprechenden Artikeln angeheizt. So fantasierte Hollenstein im Mai 2020 auf CH Media: «Ein ‹privates Racheprojekt›? Aufruhr um geplantes Buch zu Jolanda Spiess-Hegglin». Dabei war wenn schon ein «Aufruhr» von ebendieser Chat-Gruppe inszeniert worden. Der Artikel war dann der gewünschte Resonanzverstärker. Die Buchautorin wurde auf den sozialen Medien rüde attackiert, die Grünen-Fraktionschefin Trede, auch Mitglied dieses Chats, schrieb auf Facebook: «Stoppt dieses Scheissbuch.»
Unter anderem wurden dafür Hashtags wie «#haltdiefressetamedia» lanciert, anspielend auf Binswangers Arbeitgeberin. Was wie ein spontaner Shitstorm daherkam, war in Wirklichkeit orchestriert und vorbereitet. JSH gibt die Marschrichtung vor: «Wenn wir ihr ihre gemachten Fehler und ihre Absichten jetzt auf Social Media so richtig um die Ohren hauen, kann es uns daher gelingen, das Buchvorhaben im Keim zu ersticken. Ich danke euch herzlich für eure Unterstützung.»
Im Chat wurden dann in den folgenden Jahren rund 2000 Messages ausgetauscht, wie man dieses Ziel am besten erreichen könnte. Das gelang trotz aller Anstrengungen nicht, und nun wird der Inhalt und die Positionen der Teilnehmerinnen an dieser Hetze Stück für Stück veröffentlicht. Peinlich für Spiess-Hegglin.
Organisiert wurde die Schmierenkampagne von der grossen Kämpferin gegen Schmierenkampagnen, Hass und Terror im Internet höchstselbst. Das müsste auch die letzten verbliebenen Anhänger davon überzeugen, dass JSH für diese Aufgabe charakterlich ungeeignet ist.
Ihr Vereinspräsident Voigt twittert Merkwürdiges. Von «#hateleaks» sogar mit Screenshots dokumentierte Aussagen von ihm will er nicht gemacht haben, das seien «Free-Style-Lügen». Er versteigt sich sogar zur «ernsten Frage: Ist das alles frei erfunden?»
Bedenklich, wenn Voigt unter Amnesie leiden sollte. Allerdings muss ihm noch deutlich erinnerlich sein, dass er ausgerechnet haben will, dass Ringiers «Blick» mit der Berichterstattung über JSH mehr als eine Million Gewinn (oder Umsatz, da nimmt es Voigt nicht so genau) gemacht haben soll. Aufgrund dieser Behauptung schlug JSH ein grosszügiges Vergleichsangebot von Ringier aus und klagt auf Gewinnherausgabe in unbekannter Höhe.
Sollte das Gericht allerdings zum naheliegenden Schluss kommen, dass es sich hier um eine Fantasiezahl handelt, dann dürfte Feuer im Dach zwischen dem Vereinspräsidenten Voigt und JSH sein. Was diesen Ausgang wahrscheinlich macht: wäre es so einfach, im Internet mit News Geld zu machen, wäre Voigt doch nicht mit «watson» krachend gescheitert, würde sein aktuelles Projekt «bajour» nicht über jedes Mass hinaus die finanzielle Millionenhilfe einer spendablen Mäzenin brauchen ...
«Die Ostschweiz» ist die grösste unabhängige Meinungsplattform der Kantone SG, TG, AR und AI mit monatlich rund einer halben Million Leserinnen und Lesern. Die Publikation ging im April 2018 online und ist im Besitz der Ostschweizer Medien AG.
Hier klicken, um die Mobile App von «Die Ostschweiz» zu installieren.