Was haben rund 14 Monate Coronavirus in der Schweiz ausgelöst? Neben handfesten Folgen für die Gesellschaft und die Wirtschaft auch das: Die grössten Ungeheuerlichkeiten können völlig gelassen ausgesprochen werden – und werden unwidersprochen oder gar mit Applaus entgegen genommen.
Impfzwang? Nein, der ist unvorstellbar in der Schweiz. Das hielt der Bundesrat stets sinngemäss fest. Was man aber tun kann, und das bestätigte Bundesrat Alain Berset am Mittwoch zweifelsfrei: Die Menschen bevorzugt behandeln, die sich impfen lassen. Und damit umgekehrt diejenigen abstrafen, die sich nicht impfen lassen. Zum Beispiel, indem sie keinen Zugang zu Veranstaltungen haben. Wer ein Theaterstück oder ein Konzert erleben will, müsste nach dieser «Vision» einen brandaktuellen negativen Test vorweisen oder ein Impfzertifikat – oder belegen, dass er das Virus schon hatte. Obwohl das ja gemäss früheren Aussagen keine sichere Variante ist. Aber die Sinnsuche muss man gar nicht erst betreiben.
Diese Aussichten haben sogar den Epidemiologen Marcel Salathé, der als früheres Mitglied der wissenschaftlichen Task Force bisher nicht unbedingt als aktiver Gegner der offiziellen Coronapolitik in Erscheinung getreten ist, verunsichert. Die Vorstellung eines Konzerts nur für Geimpfte irritiere ihn enorm, sagte er im «Tagesanzeiger».
Irritation ist eigentlich eine recht milde Form von dem, was einen ergreifen kann bei diesem Vorhaben. Man könnte auch von Angst sprechen. Nackter Angst.
Das Problem ist, dass historische Vergleiche mit Bersets Träumen für eine neue Schweiz nicht angestellt werden dürfen. Tut man es, kegelt man sich bei einem grossen – beziehungsweise einem lautstarken – Teil der in den sozialen Medien aktiven Coronasprachrohre gleich aus der Debatte. Natürlich hat es nichts mit irgendwelchen ausgrenzenden Unrechtsregimes der Vergangenheit zu tun, wenn man eine Veranstaltung nur mit einem «Zertfikat» besuchen darf, wer würde nur schon auf die Idee kommen? Da gibt es doch keinerlei Parallelen!
Aber glücklicherweise sind manche Dinge im Leben so offensichtlich, dass man nicht mal tabuisierte Vergleiche anstellen muss. Sie liegen auf der Hand.
Zumal das Unterfangen ja erst gerade begonnen hat. Der nächste logische Schritt wären eigene Zugabteile für Nichtgeimpfte. Abgetrennte Sitzbereiche im Bus. Zugangsbeschränkungen in Läden, beispielsweise mit einem fixen Zeitfenster, in dem sich nur die gefährlichen Leute untereinander treffen dürfen – ohne jede Durchmischung mit den Geimpften, also dem guten Teil der Bevölkerung. Öffentliche Klos bitte nicht vergessen, da haben Ungeimpfte nun wirklich nichts drin verloren.
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Für das alles gibt es ein Wort. Und wir haben einst die Menschen gefeiert, die sich gegen die Existenz dieses Wortes gewehrt haben. Einer von ihnen wurde danach sogar umjubelter Staatspräsident tief im Süden der Welt. Nachdem er jahrzehntelang im Gefängnis gesessen hatte. Ein Held, ein wahrhaftiger Held. Und würde er noch leben, ihn würde heute das Grauen befallen.
Übrigens figuriert die Idee der – wir wählen ein völlig unverdächtiges Wort, um das andere zu vermeiden – «Unterscheidungspolitik» beim Bundesrat unter einem sehr harmlosen Begriff. Die Vorteile für Geimpfte, die in Wahrheit Nachteile für Nichtgeimpfte sind, sind im «Drei-Phasen-Modell» des Bundes ein Teil der «Stabilisierungsphase». Die Schweiz will sich also stabilisieren, indem sie Menschen zweiter Klasse schafft. Mit einem Zertifikat. Also einer Art Ausweis. Den man zeigen muss, um etwas Bestimmtes tun zu dürfen. Weil, und damit unterscheidet sich die Massnahme von historischen Vergleichen, man ja einem typischen Schweizer nicht sofort ansieht, ob er geimpft ist oder nicht. Er hat ja die gleiche Hautfarbe. Was natürlich sehr unpraktisch ist.
Und dann kommt die «Normalisierungsphase». Ein Wort, das sich gleich ziemlich relativieren wird, nichts ist «normal» daran. Denn diese Phase sieht unter anderem vor, dass die öffentlichen Einschränkungen allmählich abgebaut werden, also alles «normal» wird – ausser für Leute, die kein gültiges «Covid-Zertifikat» haben. Sie bleiben gemäss den heutigen Plänen ausgesperrt von Veranstaltungen, vielleicht von Restaurants, vielleicht aus bestimmten Bereichen im öffentlichen Verkehr, vielleicht zu bestimmten Tages- und Nachtzeiten im öffentlichen Raum – es ist wirklich nichts mehr undenkbar für Berset und Co.
Es ist natürlich ziemlich fürchterlich, dass eine Landesregierung auf eine solche Idee kommt. Vor allem aufgrund eines Virus, der alles andere tut als weite Teile der Bevölkerung zu gefährden. Noch viel fürchterlicher ist es, dass der Aufschrei der Gesellschaft ausbleibt. Dass es viele Leute völlig in Ordnung finden, so zu verfahren, weil sie sich selbst ja impfen lassen. Soll mit dem Rest doch geschehen, was will, was geht es uns an?
Man könnte auf die Idee kommen, dass es das alles schon einmal gab. Aber eben: Historische Vergleiche sind nicht zugelassen. Deshalb wird hier auch auf keinen verwiesen. Ausdrücklich nicht. Das würden wir niemals tun.
Was man aber tun kann: Einen unschuldigen kurzen Trailer für einen Kinofilm zeigen. Das müsste erlaubt sein. Wobei: Wer weiss?
Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.
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