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Im Gespräch mit Verena Herzog

«Highlights brauchen Geduld»

Nach 10 Jahren im Nationalrat hat SVP-Politikerin Verena Herzog (*1956) genug. Die Thurgauerin tritt 2023 nicht mehr an. Nun kann sie offen sprechen und sagt deutlich, was sie an einem Grossteil der Parlamentarierinnen und Parlamentarier stört.

Marcel Baumgartner am 27. Dezember 2022

Verena Herzog, Sie werden bei den eidgenössischen Wahlen 2023 nicht mehr antreten. Nun können Sie als Politikerin endlich sagen, was Sache ist. Ein schönes Gefühl?

Glücklicherweise blicke ich auf eine politische Karriere zurück, in der ich immer sagte, was Sache ist. Ich machte nie «Stimmenfängerpolitik», sondern auf Fachwissen abgestützte Sachpolitik, die ich stets aus Überzeugung vertreten konnte. Populismus war nie mein Ding.

Sie politisieren seit 2013 im Nationalrat. Was hat Sie während all den Jahren am meisten überrascht – oder beeindruckt?

Ich war überrascht, dass ein Grossteil der Parlamentarier, von links bis rechts nicht nur Vertreter des Volkes, sondern gewählte Lobbyisten sind. Dadurch wird eine effektive Sachpolitik enorm erschwert.

So hat mich beispielsweise beim Eintritt die grosse Anzahl von mit Krankenkassen oder der Industrie verbandelten und bezahlten Politikern in der Gesundheitskommission schockiert. Auch wenn Netze ausgeworfen wurden, lehnte ich immer ab. Mir war meine Unabhängigkeit für meine politische Arbeit zentral.

Es hat mich stark beeindruckt, dass in persönlichen Gesprächen mit Bundesräten aller Couleur meine politischen Anliegen einfach und unkompliziert deponiert und diskutiert werden konnten.

Was waren für Sie die persönlichen Highlights?

Gesetzesvorlagen, die in der Kommission während vieler Sitzungen ausgearbeitet wurden zum Durchbruch verhelfen zu können, so zum Beispiel bei der Weiterentwicklung der Invalidenversicherung, der Reform der Ergänzungsleistungen und vor allem bei den beiden AHV-Vorlagen. So konnte ich sowohl in der Kommission als auch in vielen öffentlichen Auftritten meinen Beitrag leisten, dass die ungeeignete AHV2020-Vorlage vom Souverän versenkt wurde. Dies ermöglichte eine neue, bessere AHV2021-Vorlage auszuarbeiten und zum Durchbruch zu verhelfen.

Highlights brauchen Geduld. Meine Motion aus 2015 gegen das zu leichtfertige Verschreiben von Menthylphenidat – enthalten in Ritalin – bei Schulkindern hatte im Nationalrat zwar Zustimmung erhalten, wurde jedoch vom Ständerat abgelehnt. Als Folge meines 2019 eingereichten Postulats

«ADHS. Resultate des Projektes FOKUS in die Ausbildung integrieren», dem beide Räte zugestimmt hatten, konnte nun endlich ein Bericht dazu im Herbst in der Kommission diskutiert werden. Ziel ist, dass das Projekt Focus in der Weiterbildung der Lehrpersonen ein fester Bestandteil wird und Kindern mit ADHS-Symptomen besser begegnet werden kann.

Die vielen wohlwollenden Zuschriften sind persönliche Highlights. Leute aus der Bevölkerung bedankten sich immer wieder für meinen Einsatz auch für unpopuläre Themen wie gegen die schleichende Cannabislegalisierung, gegen die hinterlistige Frühsexualisierung von Kindern und für eine gute Bildung, die den Namen verdient.

Was bereuen Sie?

Ich bereue nichts und würde alles genau gleich wieder machen.

Von aussen wird der gesamte Politbetrieb als träge wahrgenommen. Mussten Sie diese Erfahrung auch machen?

Es liegt in unserem politischen System, dass schnelle politische Würfe in bedeutenden Angelegenheiten kaum möglich sind. Und das ist gut so. Die Folgen von international ausgelösten Schnellschüssen als Reaktion auf Katastrophen, Krisen und Kriege, denen wir uns nicht entziehen konnten, werden uns die nächsten Monate oder Jahre sinnlos unproduktiv beschäftigen.

Sie kündigten an, bis zum letzten Tag 100% Einsatz für die Schweiz und den Thurgau zu geben. Kann man als Nationalrätin effektiv etwas für den eigenen Kanton bewirken?

Einzelleistungen sind meist Medienflops. Der Einsatz für den Kanton oder die Region ist Teamarbeit. So kämpft man nicht mit heroischen Einzelleistungen, sondern als Mitglied eines Teams, das sich für und nicht gegen die Interessen der eigenen Region einsetzt. So könnte sich das Team der Thurgauer Parlamentarier geschlossen für ein Projekt, zum Beispiel die von einer Mehrheit der Thurgauer Bevölkerung gewollte Bodensee-Thurtalstrasse (BTS), einsetzen. Leider scherten einzelne Thurgauer Parlamentarier aus parteiideologischen Überzeugungen aus.

Weiter resultieren auch durch die Mitgestaltung in der nationalen Gesetzgebung bessere oder schlechtere Bedingungen für den eigenen Kanton. So setzte ich mich jüngst sowohl in einem eigenen Vorstoss als auch in der Gesundheitskommission für eine bessere Versorgung in der Kinder- und Jugendmedizin ein. Meine Motion wurde von National- und Ständerat erheblich erklärt.

Nun waren gerade die letzten beiden Jahre anspruchsvoll. Hat die Gesellschaft erkannt, was während dieser entscheidenden Phase in Bern abgelaufen ist?

Weder Gesellschaft noch Medien haben wirklich erkannt, was abgelaufen ist. Bundesbern wurde seit Jahrzehnten zum ersten Mal in einem Krisenmanagement herausgefordert. Plötzlich waren in unserem System tatsächlich schnelle Reaktionen gefordert. Denn das Virus wartet nicht, bis die Räte beschlossen haben. Nicht die vorübergehende straffe Führung war das Problem, sondern die durch entsprechende Selbstdarsteller widersprüchliche Kommunikation sowie die meistens zu späte Einführung verschiedener Massnahmen. Dass gewisse einzelne Medien damit ebenfalls grosse Schwierigkeiten bekundeten, erschwerte die Problemlösung und machte es für die Gesellschaft weder transparenter noch einfacher. Die Verharmlosung der Virusinfektion, abgestützt auf Propaganda in den sozialen Medien, verunsicherte viele Menschen zusätzlich.

Die straffe Führung und die unter Mediendruck entstandenen parlamentarischen Beschlüsse über eine klar begrenzte Zeit zu akzeptieren, stellte viele vor eine grosse Herausforderung. Die Folgen dieser Schwierigkeiten werden ja erst jetzt nach und nach spürbar, so die aktuellen Krankenkassenprämien-Erhöhungen und künftig die langfristigen Folgekosten, die den Staatshaushalt massivst belasten werden.

Ich hoffe, es wurde realisiert, dass zwar erste Programme zur Unterstützung notwendig waren, jedoch die Messlatte für Staatsausgaben in unverhältnismässigem und nicht verantwortbarem Ausmass nach oben verschoben worden ist.

Es gibt andere Politiker, die ihren Stuhl auch mit über 70 noch nicht zur Verfügung stellen. Wann fassten Sie für sich den Entschluss, das Amt abzugeben?

Ich plane langfristig. Den Entschluss, die ganze Legislatur mitzuarbeiten und zu Ende zu führen, jedoch 2023 nicht erneut zu kandidieren, habe ich schon unmittelbar nach der Wiederwahl 2019, in Absprache mit der Familie und meinem engen politischen Kreis gefasst.

Damit haben Sie einem Ersatzmann das Nachrutschen verunmöglicht. Was sind die Gründe dafür?

In den letzten Wahlen hat die SVP Thurgau bewiesen, dass nicht reservierte Sessel, sondern der Einsatz und Kampf um einen frei gewordenen Sitz möglichst viele Stimmen bringt. Die Motivation und das volle Engagement aller Kandidaten ermöglichte der SVP Thurgau auf sensationelle Art und Weise wieder drei der sechs Sitze zu halten. Dafür sind «Nachrutscher» anderer Parteien rausgefallen. Somit ist klar, welche Strategie die richtige ist.

2023 beginnt nun also ein neuer Lebensabschnitt für Sie. Wie werden Sie diesen gestalten?

Ich habe drei erwachsene Kinder mit hervorragenden Ausbildungen und möchte jetzt dazu beitragen, da alle Kinder haben, ihnen noch vermehrt den Rücken frei zu halten. Auch die nächste wissensdurstige Generation darf auf meine Unterstützung zählen. Auch meine Hobbys, die in den letzten Jahren zurückgestellt werden mussten, werde ich wieder intensivieren. Und zu guter Letzt werde ich mich weiterhin in der Freiwilligenarbeit, so zum Beispiel als Präsidentin des Vereins «Jugend ohne Drogen» für die Gesundheit der Kinder und Jugendlichen und als Mitglied des Stiftungsrates von Pro Senectute Thurgau für das Gemeinwohl einsetzen.

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Autor/in
Marcel Baumgartner

Marcel Baumgartner (*1979) ist Chefredaktor von «Die Ostschweiz».

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