Wenn bei den CH-Media-Journalisten die Pferde durchbrennen, kommt’s in die Geschichtsbücher. Wenn in den deutschen Medien der Hai-Alarm ausgerufen wird, kommt der Sommer. Und wenn es spät wird auf ARD, kommt richtig gutes Fernsehen.
ESC: Historischer Klischeerekord für die Geschichtsbücher
Das journalistische Unglück passiert immer dann, wenn die Journalisten von CH Media über ein Ereignis berichten, das die Volksseele ganz besonders bewegt. Also eine Fussball-WM, oder ein Eurovisions Song Contest (ESC). Darf man dann mit dem Hochgefühl der Volksseele zählen, steigen die CH-Media-Journis regelmässig in den tiefsten Klischee-Keller. Und traktieren ihr Publikum mit grossen Buchstaben und Titeln wie (soeben wieder): «Nemo schafft das Unmögliche - Ein Sieg für die Geschichtsbücher».
«Unmöglich»? Warum soll es unmöglich sein, einen Wettbewerb zu gewinnen, an dem man teilnimmt? Warum würde man denn sonst teilnehmen? Ganz gratis ist die Teilnahme für die beteiligten Sendeanstalten ja nicht. Teurer ist es allerdings nur noch, den Wettbewerb zu gewinnen. Aber das ist wieder ein anderes Kapitel.
Zweitens: «…für die Geschichtsbücher»? Wir kennen keine anderen Medien, die sich so oft in die Geschichtsbücher einschreiben wollen wie die CH Media-Blätter. Allen voran die Sportredaktionen: Sei es ein Fussballsieg, ein Stabhochsprung oder ein Schwimmrekord – für die Aargauer Zeitung oder das St.Galler Tagblatt ist so ein Sprung oder Schwumm immer gleich «historisch». Aber auch Ressorts, zu deren geistiger Grundausstattung etwas mehr Geschichtsbewusstsein gehören müsste, füllen unablässig die imaginären Geschichtsbücher. Mit einem Dorffest im Leimental oder einem Gesangsauftritt in Malmö. Auf den CH-Media-Redaktionen müssen die Wände inzwischen mit Geschichtsbüchern tapeziert sein.
Der Sommer kommt
«Hai-Alarm im Mittelmeer» - die Zeitungsgruppe des «Münchner Merkur» hat das diesjährige Rennen um die erste Gruselmeldung des Sommers gewonnen. Rund eine Million Leser wurde letzte Woche mit der Meldung beglückt, dass vor Menorca ein Blauhai gesichtet wurde. Wonach der Strand der Baleareninsel sofort geschlossen worden sei. Dass im Mittelmeer 47 Haiarten leben sollen, die allermeisten davon ungefährlich und unsichtbar – geschenkt. Je näher die Sommerferienzeit rückt, desto dichter das Bombardement mit Gruselmeldungen. Über Taschendiebe, fehlende Bademeister, Wucher mit Sonnenschirmen und alle möglichen Fantasie-Bussen für Touristen. Ein bisschen Schauder gehört ins Reisegepäck, sonst bliebe es ja beim Alltag von Wanne-Eickel oder Schwamendingen.. Jedenfalls haben die Alarmmeldungen bisher noch nie zu einer Abnahme des Touristenstroms gen Süden geführt – im Gegenteil. Vielleicht stammen die Alarmmeldungen ja von den Tourismus-Büros am Mittelmeer.
«Komplett versendet»
Wer das Glück hatte, am letzten Freitagabend zu später Stunde nicht verreist, noch wach und zufällig auf ARD zu sein, konnte von 22.20 – 02.30 Uhr (!)eine der besten Serien sehen, die in Deutschland seit sehr langer Zeit ausgestrahlt wurde. Der preisgekrönte Sechsteiler «Die Zweiflers» erzählt die Geschichte einer jüdischen Frankfurter Familie von 1945 bis heute, hat Witz, Kolorit, Dramatik, Tiefgang – und tolle Schauspieler wie die umwerfende Sunnyi Melles, Ute Lemper, jiddisch sprechende Broadway-Stars wie Mike Burstyn und Eleanor Reissa oder die junge Schweizerin Deleila Piasko. Auf den Programmseiten der Medien war davon kaum etwas zu sehen. Man musste also zufällig darüberstolpern. Das wäre fürs Schweizer Fernsehpublikum, das mit Serien von der Alp und anderen Folkloritäten verwöhnt wird, ja noch erklärlich. Unverzeihlich aber ist die unmögliche Programmation fürs deutsche Fernsehvolk. Eine der seltenen deutschen Rezensionen der überragenden Serie (in der Schweiz hatte gerade mal der Tages-Anzeiger darüber geschrieben) brachte es auf den Punkt: «komplett versendet».
Gottlieb F. Höpli (* 1943) wuchs auf einem Bauernhof in Wängi (TG) auf. A-Matur an der Kantonssschule Frauenfeld. Studien der Germanistik, Publizistik und Sozialwissenschaften in Zürich und Berlin, Liz.arbeit über den Theaterkritiker Alfred Kerr.
1968-78 journalistische Lehr- und Wanderjahre für Schweizer und deutsche Blätter (u.a. Thurgauer Zeitung, St.Galler Tagblatt) und das Schweizer Fernsehen. 1978-1994 Inlandredaktor NZZ; 1994-2009 Chefredaktor St.Galler Tagblatt. Bücher u.a.: Heute kein Fussball … und andere Tagblatt-Texte gegen den Strom; wohnt in Teufen AR.
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