Stanisław Dygat: Über den polnisch-englisch-französischen Mikrokosmos während der Internierung für Ausländer am Bodensee 1940 in einer Schule in Konstanz liegt jetzt sein Romandebüt vor, der weitab der Klischees liegt. Es ist ein Schlüsselroman der polnischen Literatur.
«Stanisław Dygat kenne ich nur als den Ehemann von Kalina Jędrusik – einer guten Schauspielerin, sehr guten Sängerin und ausgezeichneten Skandalistin der grauen 1960er-Jahren in Polen. Der damalige erster Parteisekretär Władysław Gomułka hat mit seinen Hausschuhen auf das Fernsehgerät geworfen, als er sie auftreten sah», antwortete Lucas Lukasiewicz vom Versandantiquariat Biopuls in Dozwil TG auf unsere Anfrage. Dygat herauszugeben war damals verboten, vermutlich weil er ein Halbfranzose war und auf einem Niveau weit über den damaligen Verhältnissen in Polen gelebt hat. «Leider habe ich nichts von Dygat am Lager und in meiner privaten Bibliothek auch nichts. Literatur ist auch nicht mein Thema. Nichtsdestoweniger bin ich sehr überrascht, dass ein Schweizer sich dafür interessiert», so der französisch-polnische Buchhändler aus Dozwil.
Aus Schweizer Sicht ist auch Dygats Traum vom Grenzübertritt zur Gründung einer französisch-polnischen Legion interessant. 12'000 polnische Soldaten waren im Zweiten Weltkrieg in der Schweiz interniert – auch in der Ostschweiz. Im Sommer 1940 hatten polnische Truppen die Schweizer Grenze überschritten und wurden anschliessend interniert. Die Soldaten aus Osteuropa haben fünf Jahre in der Schweiz gearbeitet und gelebt. Spuren gibt es bis heute unter anderem Matzingen, Pfyn und Herisau.
Durch den russischen Überfall vom 24. Februar 2022 auf die Ukraine, werden in Polen Emotionen aufgewühlt, die im Buch «Bodensee» auch eine wichtige Rolle spielen. Es entsteht eine gewisse Tagesaktualität, denn die Polen haben da leider in den letzten 200 Jahren leidvolle Erfahrungen sammeln müssen. Die polnischen Romantiker und ihre Sehnsüchte werden in Dygats Roman immer wieder angesprochen.
Erstausgabe 1946 in Polen erschienen
«Dygat war vor 1945 noch nie in Frankreich und sprach schlecht Französisch. Aber als er Ende 1940 nach Warschau zurückkehrte, war er mit seinem französischen Pass einigermassen geschützt. Als Pole eingebürgert wurde er erst nach dem Krieg», weiss Historiker Dr. Arnulf Moser. Dygats Arbeit führte ihn auch nach Paris, wo er das Theater für sich entdeckte. Die Originalausgabe erschien 1946 unter dem Titel «Jezioro Bodeńskie» in Polen. Ebenfalls vor 76 Jahren wurde die von Antoine Dygat, dem Vater des Autors, übersetzte französische Ausgabe «Le Lac de Constance» in Frankreich veröffentlicht. Diese französische Ausgabe war Grundlage für die deutsche Übersetzung des Konstanzer Verlegers Wolfgang Hartung-Gorre. «Jezioro Bodeńskie» von Stanisław Ludwik Dygat ist zwar ein Roman, der am Bodensee des 20. Jahrhunderts spielt, in eine Reihe von sogenannten Internierungsliteratur gehört er jedoch nicht, denn er blickt nicht nostalgisch auf andere Zeiten zurück.
Durch Zufall stiess der frankophile Verleger Wolfgang Hartung-Gorre auf Dygats Buch und fand sofort Gefallen daran. «Ich habe hier in Konstanz Mathematik und Wirtschaftswissenschaften studiert. Französisch lernte vor allem in der Schule», berichtet Hartung-Gorre (74). Zunächst arbeitete er in der Universität und anschliessend im Schuldienst als Mathematik- und Informatiklehrer. Er hatte den Verlag 1982 als Autor von Schulbüchern am Bodensee gegründet. Seine Frau Dr. Renate Gorre übernahm ihn ein Jahr später und machte daraus einen wissenschaftlichen Verlag, in dem auch viele Schweizer Autorinnen und Autoren von den ETHs in Zürich, Lausanne und Lugano veröffentlichen. Bislang hat der Hartung-Gorre-Verlag beinahe 2'800 Bücher herausgegeben.
«Ein Romandebüt des Vorkriegs»
Dygats Roman, um Missverständnissen vorzubeugen, entstammt einer früheren Idee von 1937 und 1939. «Bodensee» sei kein Kriegsbuch und habe in keiner Weise (ausser im Formalen) mit dem Krieg zu tun hat. «Es ist ein Romandebüt des Vorkriegs», schieb Dygat 1955 im Vorwort seines Roman in Polen. «Das Ausländerinternierungslager in Konstanz am Bodensee, in dem ich mich wiederfand, und in dem es weder gut noch schlecht, weder zu traurig noch besonders fröhlich war, aus dem sich ein Mensch in ein wirkliches Leben voller Kraft und Taten begab, der selbst in seinen Träumen nicht so recht wusste, wo und wie er es suchen sollte, schien mir eine hervorragende (und für ein Debüt originelle) Form für den Inhalt meiner Romanidee. Ich möchte den Leser jedoch darauf aufmerksam machen, dass alles, was in ‹Bodensee› innerlich und zum Teil auch äusserlich geschieht, genauso gut vor dem Krieg hätte passieren können, zum Beispiel auf irgendeinem Schiff, in irgendeinem Sanatorium oder in einer langweiligen Pension. Es hätte den Sinn nicht verändert. Auch der wesentliche Inhalt des Werks würde dadurch nicht verändert», schreibt Dygat.
Ein in der ersten Person geschriebenes Buch suggeriert immer eine Einheit zwischen Autor und Protagonist. «Ich bin der Meinung, dass die erste Person eine formale Wahl ist, die sich nur schwer näher begründen lässt und keineswegs ein getreues Porträt des Autors darstellt. Ich möchte sagen, dass ich in ‹Bodensee› die Psychologie der Sehnsüchte, Erfahrungen und der Ohnmacht eines jungen Mannes aus einem bestimmten Vorkriegsmilieu malen wollte», schreibt Stanisław Dygat 1955 über seinen Erstlingsroman.
«Schlüsselroman der polnischen Literatur»
Im Vorwort zur deutschen Erstausgabe schreibt der Slawist und Übersetzer Dr. Hans-Christian Trepte: «Nach vielseitigen Bemühungen liegt nunmehr Bodensee von Stanisław Dygat (1914-1978), ein Schlüsselroman der polnischen Literatur, auch in deutscher Übersetzung vor. In der unmittelbaren Nachkriegszeit wurde der Text als ein Angriff auf die ‹Bourgeoisie› und die bürgerliche ‹Intelligenz› in Polen gewertet. Das hat auch mit der Entstehungsgeschichte des Buches zu tun, hatte doch Dygat den Romantext bereits von November 1942 bis Juni 1943 niedergeschrieben, mit seiner Veröffentlichung 1946 war das Werk aber in die leidenschaftlich ausgetragenen Auseinandersetzungen um eine neue, volksdemokratische polnische Literatur geraten und damit als wichtiges Zeugnis der literarischen Strömung der «
‹Abrechnungen mit der Intelligenz› interpretiert worden. In Polen selbst gibt es in den letzten Jahren ein wachsendes Interesse an Dygat, an seinem Privatleben als Bohemien, an seinem sozialen Engagement und künstlerisch-literarischem Werk. Mit der Dichterin und Journalistin Agnieszka Osiecka hatte Dygat in Warschau einen renommierten künstlerisch-literarischen Salon geführt, der von namhaften in- und ausländischen Künstlern besucht wurde. Im November 1957 brach Dygat endgültig mit der regierenden ‹Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei› (PVAP), 1964 unterzeichnete er den ‹Brief der 34›, der Rede- und Publikationsfreiheit einforderte.» Der Schriftsteller gehörte auch zu den Unterzeichnern der an den polnischen Sejm (eine der beiden Kammern des polnischen Parlaments) gerichteten Gedenkschrift «Memorial 101», 1975 hatte er schliesslich mit weiteren polnische Intellektuelle gegen die auf dem 7. Parteitag der PVAP beschlossenen Veränderungen in der Verfassung der Volksrepublik Polen protestiert, was ihm letztendlich ein zeitweiliges Publikationsverbot einbrachte.
«Patriotismus», «Männlichkeit», «Heldentum»
Wichtig erscheint es, Dygats Roman auch in einem aktuellen kulturgeschichtlichen wie literarischen Kontext, im Verhältnis des Autors zur eigenen Biografie, als «Zeugnis», «Geständnis», «Herausforderung» aufzufassen wie auch im «Dialog», ja «Spiel» mit dem Leser zu betrachten, schreibt Slawist Dr. Hans-Christian Trepte weiter. Das Besondere in der Biografie bei Dygat beziehe sich in erster Linie auf sein Verhältnis zu Polen und Frankreich, aber auch zu Deutschland. Dabei war es dem
Schriftsteller wichtig, seine französische Herkunft herauszustellen. Wie sollte er als Pole französischer Herkunft sein? Wie konnte er ein echter Pole sein? In seinem Roman setzt sich dieses Polnisch-Sein aus stereotypen Vorstellungen vom Polentum aus einer Triade von «Patriotismus», «ritterlicher Männlichkeit» und «Heldentum» zusammen.
Der deutsche Schriftsteller und Übersetzer Karl Dedecius schrieb 1997 über dieses Werk: «Der Roman ‹Bodensee›, vor allem der darin enthaltene Vortrag zum Thema ‹Ich und mein Volk› war in Polen von nachhaltiger Wirkung, weil er die romantische Grundidee des polnischen Messianismus auf eine völlig eigene, liebenswert-ironische Weise kritischen Überlegungen unterzieht.»
1940 mit Schiff von Lindau nach Konstanz
Die französischen und englischen Zivilpersonen kamen nach Konstanz (Gebhardschule in Petershausen, heute Stadtteil von Konstanz), weil man sie über die Schweiz mit internierten Deutschen in Frankreich oder England austauschen wollte. Der Transport aus Warschau, in dem sich Stanislaw Dygat und seine Eltern befanden, umfasste 19 Engländer, darunter auch polnische Angehörige, und 51 Franzosen, darunter ebenfalls polnische Angehörige. «Die Gruppe wurde mit der Bahn bis Lindau gebracht und fuhr von dort mit dem Linienschiff am 29. Juni 1940 abends nach Konstanz», berichtet Arnulf Moser im spannenden Nachwort. Am 15. Oktober 1940 wurde das Konstanzer Internierungslager für Ausländer geschlossen. «190 Frauen, zehn Kinder und 35 alte Männer wurden», so Moser, «in die katholische Heil- und Pflegeanstalt Liebenau bei Tettnang in Oberschwaben verlegt. Dort gab es zunächst viel Platz, nachdem 510 Patienten bei Euthanasie-Aktionen ermordet worden waren. Von Liebenau konnten die Franzosen gegen Jahresende nach Frankreich oder Polen abreisen.» Die übrigen Männer aus Petershausen kamen in das Internierungslager Tost bei Gleiwitz in Oberschlesien. Über diese Station ist Stanislaw Dygat wohl nach Polen zurückgekehrt. Stanislaw Dygat kehrte nach Warschau zurück. Noch in der Kriegszeit verfasste er den Roman. «Ich begann im November 1942 mit dem Schreiben von ‹Bodensee›, und beendete es im Juni 1943. 1946 ging es in Druck», schrieb Dygat 1955. Nach dem Krieg nahm er die polnische Staatsagehörigkeit an.
Klagen über Essen und Kleidung
Das Internierungslager Konstanz wurde am 16. August 1940 von zwei Delegierten des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (CICR) in Genf inspiziert. «Zu diesem Zeitpunkt waren etwa 200 Frauen und etwa 65 Männer in dem Lager. Unter den Frauen waren 139 Französinnen, darunter etwa 70 Gouvernanten (Hauslehrerinnen) aus Polen, die übrigen waren Engländerinnen und einige Polinnen. Die Altersspanne der Französinnen reichte von sechs Monaten bis 87 Jahren», berichtet Moser im Nachwort. Bei den Männern waren 30 Franzosen und 33 englische Matrosen, die von versenkten Handelsschiffen gerettet worden waren. Die Altersspanne der Franzosen reichte von 4 bis 78 Jahren. Insgesamt waren 30 Kinder in dem Lager. Der letzte Transport aus Warschau war am 10. August mit 75 Frauen angekommen. Man erwartete noch einen Transport mit 20 Frauen. Die Internierten, mit denen die Delegierten sprachen, klagten über das Essen und mangelnde Kleidung. Die meisten hatten kein Geld, weil man es ihnen auf dem Transport abgenommen hatte. Es gab keine Bücher, man hätte wohl deutsche Zeitungen kaufen können. Die Internierten konnten aber Post und Pakete bekommen, vor allem aus Polen. Bis zu dieser Inspektion konnten sie einmal pro Monat einen Brief schreiben, danach vier Karten und zwei Briefe pro Monat. Ein deutscher Arzt kam regelmässig vorbei. Vor allem ältere Männer klagten über mangelnde medizinische Betreuung.
Fluchtversuche in die Schweiz
Die lokalen Bezüge im «Bodensee»-Buch sind eher gering. Es gab keine Fluchtversuche in die Schweiz, die Überwachung war eher lässig. Die Internierten rechneten ja mit einem Austausch über die Schweiz. «Dygat wundert sich über den Bodenseenebel, ist aber vom See- und Alpenpanorama beeindruckt. Die Atmosphäre, der Geruch des Schulhauses bedrücken ihn, es sieht nach deutscher Disziplin aus. Im regelmässigen Alltag der Internierung hat man endlos Zeit zu streiten, ob das Bismarck-Denkmal, das man von der Schule aus sieht, ein Hindenburg-Denkmal oder ein Wasserreservoir ist. Einmal träumt Dygat von einer nächtlichen Flucht in die Schweiz, begleitet von einem französischen und einem polnischen Kriegsgefangenen, die eine polnisch-französische Legion gründen wollen, kehrt aber im Traum wieder in die Schule zurück», schreibt der Konstanzer Historiker Dr. Arnulf Moser kenntnisreich im Nachwort. «Dygat wusste vielleicht, dass 1940 auf französischer Seite eine polnische Exilarmee mitgekämpft hatte. Aber er wusste sicher nicht, dass im Juni 1940 12'000 polnische Soldaten, vom Nachschub abgeschnitten, vom französischen Jura in die Schweiz überwechselten, wo sie interniert wurden.»
Kontakte in den Treppenhäusern
Mit der Unterkunft selber waren die Internierte eigentlich ganz zufrieden, 12 bis 14 Betten in einem Klassenzimmer, täglich warmes Wasser, fünf Stunden Hofgang täglich. «Beim Hofgang waren Männer und Frauen getrennt, mit Ausnahme der Ehepaare. Kontakte zwischen Männern und Frauen gab es also nur in den Treppenhäusern und langen Fluren, was bei Dygat immer wieder Thema ist», schreibt Moser. Ein besonderes Kapitel sind seine Kontakte zu französischen Frauen in der Schule, auch was polnischen und französischen Charakter betrifft. «Sie sind insofern amüsant, als sie nur in den weitläufigen Fluren und den Treppenhäusern stattfinden oder vermieden werden können. Ein Zaun um das Gelände war nicht erforderlich, weil keine Fluchtgefahr bestand.»
Gedenktafel in der Konstanzer Gebhardschule
Die Schule im Konstanzer rechtsrheinischen Stadtteil Petershausen wurde 1909 vom Stadtbaumeister Paul Jordan als Volksschule erbaut. Sie besteht aus zwei Flügeln, einer Mädchen- und einer Knabenschule, damals jede mit eigenem Pausenhof. Der Festsaal spiel in Dygats Roman eine besondere Rolle.
Zum 100. Geburtstag von Stanislaw Dygat wurde – mit etwas Verspätung am 5. Dezember 2015 – im Eingangsbereich der Gebhardschule (ehemalige Mädchenschule, Südseite) in Anwesenheit von Vertretern der polnischen Botschaft in Berlin, der Stadt Konstanz und der Tochter von Stanislaw Dygat eine zweisprachige Gedenktafel angebracht: «In diesem Haus war 1940 der herausragende polnische Schriftsteller Stanislaw Dygat (1914 – 1978) interniert. Hier spielt auch die Handlung seines Romans ‹Bodensee›. Zum Jahrestag des Geburtstages des Schriftstellers, Konstanz Dezember 2015.» Im Rahmen des Internationalen Bodensee-Festivals 1998 mit polnischer Kultur und Literatur, fanden in Ravensburg und St. Gallen auch Lesungen von Dygats Bodensee-Roman statt.
Urs Oskar Keller (*1955) ist Journalist und Fotoreporter. Er lebt in Landschlacht.
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