Marcel und Farina Bürgi.
Es war vor fünf Jahren, als die alleinerziehende Mutter Farina Bürgi aus St.Gallen einen Zusammenbruch erlitt und Hilfe holen wollte. Das hatte fatale Folgen. Mit dem Verdacht auf Verwahrlosung und Alkoholsucht wurden ihre drei Kinder im März 2015 fremdplatziert.
Es ist eine typische Patchwork-Familie:. Farina Bürgi ist Mutter von drei Jungs, Marcel Bürgi hat ein Mädchen und einen Jungen aus erster Ehe, die bei deren Mutter leben. Noch vor fünf Jahren sah die Welt der heute 41-Jährigen allerdings alles andere als schön aus. Die damals alleinerziehende Mutter fühlte sich überfordert. Am 25. Februar 2015 erlitt Farina Bürgi einen Zusammenbruch und holte sich alkoholisiert Hilfe bei der Polizei. Das hatte Auswirkungen: Am 15. März 2015 wurden ihre drei Buben – damals 5, 8 und 15 Jahre alt – von der Polizei aus der Schule abgeholt. Wegen dem Verdacht auf Verwahrlosung und Alkoholsucht und -missbrauch platzierte die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde KESB die Kinder in zwei verschiedenen Heimen fremd.
Über ein Jahr lang kämpfte Farina Bürgi um ihre Kinder – auch in der Öffentlichkeit, was die Medien auf ihren Fall aufmerksam machte. Im März 2016 strahlte das Schweizer Fernsehen die Dok «Die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde KESB in der Kritik aus». Neben zwei anderen Geschichten wurde dort auch der Fall von Farina Bürgi und ihren Kindern thematisiert. Kurz nach der Ausstrahlung folgte die Wende.
Farina Bürgi, seit Ihre Buben von der KESB fremdplatziert wurden sind bald fünf Jahre vergangen. Wissen Sie noch, wie Sie sich damals gefühlt haben, als Sie überfordert bei der Polizei Hilfe holen wollten?
Meine persönlichen Lebensumstände waren damals katastrophal. Mein ehemaliger Partner terrorisierte und belästigte mich, ein verständnisloser Nachbar im gleichen Haus erzählte heftige Lügen über mich als Mutter und meldete mich bei der KESB. Zeitgleich war ich arbeitslos, Sozialhilfeempfängerin und fühlte mich minderwertig in der Gesellschaft. Und vor allem fühlte ich mich sehr alleine. Ich hatte kein soziales Netzwerk, und so suchte ich verzweifelt Hilfe bei der Polizei. Ich fühlte mich einfach völlig ausgebrannt.
Was hat Sie damals dermassen überfordert?
Wer wäre nicht überfordert nach 16 Jahren als alleinerziehende Mutter mit drei Jungs ohne jegliche Hilfe vom Vater, der sich hin und wieder um seine Kinder kümmert oder zumindest einmal nachfragt, wie es ihnen geht. Ich hatte keine Familie, niemanden, der zwischendurch auf die Kinder schaute, damit ich einmal hätte auftanken können. Die ganze Verantwortung lag bei mir. Kranksein konnte ich mir nicht erlauben. Dies jahrelang alleine zu stemmen, raubte mir die Kräfte. Hinzu kam ein stalkender Expartner, der mich seit 2011 nicht in Ruhe liess und mich bei jeder Gelegenheit entwertete und stets wusste, was ich machte oder wo ich mich gerade aufhielt. Ich bin eigentlich ein lebensfroher Mensch, aber es wurde einfach zu viel für mich.
Mit dem Verdacht auf Verwahrlosung und Alkoholsucht oder -missbrauch wurden Ihre Kinder im März 2015 dann fremdplatziert. Wie war dies damals für Sie?
Zuerst verlor ich komplett den Boden unter den Füssen. Die erste Zeit wusste ich nicht einmal, wo meine Kinder untergebracht waren und wie es ihnen geht, welche Ängste sie haben. Das war das Schlimmste, was mir je passiert ist. Und das Schlimmste für meine Kinder. Ich schlief fast nicht mehr und hatte auch keinen Hunger mehr. Es war, als würde die Welt um mich herum still stehen. Als hätte man mir die Luft zum Atmen genommen. Aber dann wurde mein Kampfgeist geweckt. Ich fing an, um meine Kinder zu kämpfen, wie eine Löwenmutter um ihre Kinder. Und ich liess die Menschen in den sozialen Medien daran teilhaben.
Wie war der Kontakt damals mit der KESB?
Schlimm war, dass mir zwar meine Kinder genommen wurden, ich gleichzeitig von der KESB aber keine Auflagen erhielt, was ich tun könnte, um meine Kinder wieder bei mir zu haben. Ich ging dann von selber in die Suchtfachstelle und liess mich regelmässig auf meinen Alkoholkonsum testen. Dies bedeutete, dass ich zwei- bis dreimal pro Woche einen unangekündigten Anruf erhielt und innerhalb von einer Stunde dort erscheinen musste, um meinen Alkoholwert prüfen zu lassen.
Ich ging auch in eine Gesprächstherapie. Die KESB selber hat mich dort nicht angemeldet, was die Fachstelle dann dazu bewog, mich nicht länger behandeln zu wollen. Ohne Auftraggeber war eine weitere Gesprächstherapie nicht möglich. Die Alkoholtests habe ich weiter gemacht und selber bezahlt. Alle diese Aktivitäten reichten der KESB allerdings nicht, um den Beweis zu erbringen, dass keine Alkoholsucht mehr vorhanden ist. Ich konnte zweimal einen Termin bei der KESB nicht wahrnehmen, weil ich mit einer Grippe im Bett lag. Das wurde gegen mich verwendet. Die Suchtfachstellenleiterin hingegen erklärte immer wieder, sie erkenne keine Alkoholsucht. Auch der Vorwurf der Verwahrlosung der Kinder konnte von meinem Kinderarzt, der meine Söhne seit langem kennt, nicht bestätigt werden. Die Vorwürfe der KESB wurden also weder jemals überprüft, noch hatte ich irgendwelche Auflagen.
Über ein Jahr haben Sie erfolglos darum gekämpft, dass Ihre drei Buben wieder zu Ihnen nach Hause kommen dürfen. Wie war diese Zeit? Und wer hat Ihnen da den nötigen Halt gegeben?
Halt gab mir in dieser Zeit mein Stiefvater, der stets hinter mir stand. Er kennt mich, seit ich 11 Jahre alt bin. Er war es auch, der mich immer mit dem Auto zu den beiden Kleineren ins Heim brachte oder sie abholte. Das Heim wäre für mich sonst nur mit dem öffentlichen Verkehr und einem anschliessenden Fussweg von 50 Minuten zu erreichen gewesen.
Kurz nach der Ausstrahlung der Reportage vom Schweizer Fernsehen durften Ihre Buben wieder zu Ihnen nach Hause zurück. Ein Zufall?
Ganz und gar nicht. Es gibt keine Zufälle. Der Beschluss der KESB fiel bereits vor der Ausstrahlung der Sendung. Am 27. Februar 2016 erhielt ich den erlösenden Anruf, als ich gerade mit den Kindern einen Ausflug machte. Was für die KESB letztlich der ausschlaggebende Punkt war, dass meine Jungs wieder nach Hause durften, weiss ich bis heute nicht.
Zuerst kam Ihr ältester Sohn wieder nach Hause. Einige Wochen später dann auch die beiden Jüngeren. Konnten Sie da wieder durchatmen?
Dieses Gefühl kann man nicht beschreiben. Ich fiel weinend vor Glück auf die Knie, konnte es gar nicht fassen. Kurz zuvor teilte man mir nämlich mit, dass nicht nur der Obhutsentzug weiter bestehen bleibt, sondern man mir auch noch das Sorgerecht entziehen will. Und plötzlich die Wende…
Ein Jahr waren Ihre Kinder von Ihnen getrennt. Wie haben sie sich in dieser Zeit verändert?
Bis heute haben Sie Mühe, im Dunkeln zu schlafen, leiden auch teilweise unter Aggressionen. Es kamen schulische Schwierigkeiten hinzu, die aber immer mehr verschwinden. Und natürlich die unterschwellige Angst, wieder fort zu müssen. Auch heute wird die Zeit im Heim noch oft von den Kindern thematisiert. Und sie haben teils Mühe mit Autoritätspersonen, weil sie im Heim schlimme Erfahrungen gemacht haben.
Der mittlere Sohn war zwei Jahre lang beim kinderpsychologischen Dienst in Therapie. Bei meinem Jüngsten vermutet man eine posttraumatische Belastungsstörung, bei der wir nun schauen, wie es weitergeht.
Marcel und Farina Bürgi.
Wie lief die Geschichte mit der Kinder- und Elternschutzbehörde weiter? Wurde Ihre Akte geschlossen? Können Sie ohne irgendwelche Aufsicht oder Überprüfung leben?
Der damalige Beistand der Kinder war noch einmal bei uns zu Hause, bevor er seine Stelle wechselte. Dies wurde mir jedoch gar nicht mitgeteilt, auch nicht, wer der Folgebeistand ist. Erst, als ich den Antrag auf Aufhebung der Beistandschaft stellte – aufgrund stabiler Familienverhältnisse und nach über einem Jahr, in dem wir gar keinen Kontakt mit der KESB oder einem Beistand hatten – kam ich zum ersten Mal mit dem neuen Beistand in Kontakt. Seit Mai 2019 besteht keine Beistandschaft mehr für die Kinder. Ich selbst hatte nie einen Beistand.
Bereits in dieser schwierigen Zeit haben Sie Ihren heutigen Ehemann kennengelernt. Wie wichtig war er in dieser ganzen Geschichte?
Wir lernten uns im November 2015 auf Facebook kennen, und ich schrieb öfters mit ihm über meine Ängste, Sorgen und Nöte. Und er las natürlich meine öffentlichen Beiträge und machte mir Mut. Das erste Mal persönlich getroffen haben wir uns zwei Tage vor der Nachricht, dass die Kinder zurück nach Hause kommen würden – und damit eine Woche vor der Ausstrahlung der Sendung DOK.
Haben Sie heute noch einen Groll gegenüber der KESB?
Gewisse Anschuldigungen, die aus der Luft gegriffen waren, lassen hin und wieder schon noch einen leichten Groll oder ein seltsames Gefühl hochkommen. Ich lasse diesen Gefühlen jedoch keinen Raum in meinem Leben mehr.
Was raten Sie Familien oder alleinerziehenden Elternteilen, die sich überfordert fühlen?
Als Erstes fände ich es wichtig, dass die KESB nicht mehr als die bedrohliche Behörde wahrgenommen wird, die nur Zerstörung will. Diese Annahme macht Angst. Und so lange Menschen und Eltern Angst haben, wird es immer so sein, dass Dinge, die eigentlich gar nicht so schlimm und lösbar wären, lieber vertuscht werden, weil sich die Leute nicht trauen, Hilfe zu holen. Die Menschen sollen nicht mehr Angst haben vor ihren Fehlern. Es fängt aber schon in der Gesellschaft an. Wir selbst beurteilen andere Menschen oder ihre Fähigkeiten als Eltern oftmals vorschnell. Ich möchte Mut machen, nicht aufzugeben, weiter zu kämpfen und eigene Schwächen hin und wieder auch selbst anzunehmen. Denn wer kommt nicht hin und wieder an seine Grenzen? Wer ist nicht manchmal überfordert?
Nadine Linder war Redaktorin von «Die Ostschweiz».
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