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Serie | Meilensteine & Schicksalsschläge

Immer mehr Menschen leiden an Depressionen – Was aber ist der Auslöser dafür?

Die Wirklichkeit driftet oftmals weit auseinander von der heilen Welt, welche uns die Sozialen Medien vermitteln wollen. Fakt ist: Jede sechste Mutter wird hierzulande wegen psychischer Probleme behandelt, sagt Entwicklungsingenieurin Carina Wolfer im Interview.

Manuela Bruhin am 10. Mai 2023

Wie verbreitet sind postpartale Depressionen in der Schweiz?

Zu den Erkrankungsraten gibt es unterschiedliche Angaben, abhängig von der Art und dem Zeitpunkt der Erfassung. Insgesamt wird in der Schweiz etwa jede sechste Schwangere oder Mutter im ersten Jahr nach einer Geburt wegen psychischer Probleme behandelt. Dies entspricht einer Prävalenzrate von etwa 17 Prozent pro Jahr für PPE (Berger, A., Perinatale psychische Erkrankungen, 2019). Die Dunkelziffer dürfte jedoch hoch sein.

Den «Babyblues» kennen wohl viele. Doch wann spricht man von einer postpartalen Depression?

Ja, der Babyblues ist sehr verbreitet. Bei etwa 80 Prozent der Wöchnerinnen treten innerhalb von drei bis fünf Tagen nach der Entbindung Symptome auf. Diese wären Stimmungsschwankungen, Traurigkeit, also «grundloses» Weinen, manchmal auch Ängstlichkeit oder Verwirrtheit. Bei längerem Anhalten dieser Symptome, mehr als zehn Tage, geht der Babyblues häufig in eine Depression über. Es können Gefühle der Inkompetenz, Hoffnungslosigkeit sowie Gereiztheit, Energielosigkeit, Ängste und psychosomatische Beschwerden wie beispielsweise Schwindel auftreten. Zwangsgedanken sind sehr häufig. Auch Suizidgedanken können zum Krankheitsbild gehören.

Eine postpartale Depression, kurz: PPD, kann auch noch sehr viel später auftreten. Am häufigsten tut sie das zwar in den ersten drei Monaten nach der Geburt, ein erhöhtes Risiko besteht aber bis zu drei Jahre nach der Geburt, manchmal beispielsweise auch um das Abstillen herum. Als «postpartal» gilt heute der Zeitraum bis zu einem Jahr.

Und in ganz schweren Fällen?

Eine postpartale Psychose tritt sehr selten auf. Wir sprechen von einer bis zwei von 1000 Frauen. Sie ist die schwerste Form der nachgeburtlichen Krise. Es gibt verschiedene Formen, die oft als Mischformen auftreten. Manische Symptome, wie zum Beispiel Antriebssteigerung, Unruhe und Grössenwahn wechseln sich ab mit depressiven Symptomen, wie Angstzuständen, Bewegungs- und Teilnahmslosigkeit. Häufig sind auch schizophrene Symptome, unter anderem Halluzinationen und Wahnvorstellungen. Diese Form der psychischen Krise ist relativ leicht zu erkennen und bedarf einer sofortigen psychiatrischen Behandlung, da Mutter und Kind in sehr grosser Gefahr sind.

Weshalb wird eine Depression überhaupt ausgelöst?

Meist ist es ein sehr individuelles Zusammenspiel von mehreren Risikofaktoren und Ursachen. Unter anderem können Depressionen in der eigenen Vorgeschichte oder innerhalb der Familie eine Rolle spielen. Es gibt auch psychosoziale Faktoren wie beispielsweise fehlende soziale Unterstützung, eine problematische, konfliktbeladene Paarbeziehung oder schwierige Umstände bei der Entbindung. Die Geburt wird zum kritischen Lebensereignis, da sich alles stark modifiziert. Die Paarbeziehung verändert sich und die Mutter muss in ihre neue Rolle finden. Schwierige Themen aus der Vergangenheit, wie eine problematische Beziehung zur eigenen Mutter, können dabei wieder hochkommen.

Auch stark belastende Ereignisse wie ein behindertes oder zu früh geborenes Kind oder eine Trennung wirken sich aus. Persönlichkeitsfaktoren, wie hohe Erwartungen an sich selbst und Perfektionismus oder ein geringes Selbstvertrauen, können das Risiko einer Erkrankung erhöhen. Körperliche Faktoren wie die hormonelle Umstellung nach der Geburt und der Absturz der Östrogen- und Progesteronwerte spielen eine Rolle. Frauen reagieren sehr unterschiedlich auf hormonelle Veränderungen, Kausalzusammenhänge sind bis heute nicht geklärt. Auch Probleme mit der Schilddrüse können ein Auslöser sein.

Hinzu kommt die neue, oftmals sehr anstrengende Situation mit dem Säugling. Stillprobleme, ein Schreibaby, Schlafmangel… Für eine postpartale Depression gibt es sehr viele mögliche Auslösefaktoren.

Die sozialen Medien schaukeln uns vor, dass die Geburt eines Babys das wundervollste Erlebnis sein soll, die Mutterliebe von der ersten Sekunde da und die Welt nur noch rosarot oder babyblau ist. Wie sehr unterscheidet sich dieses Bild von der Realität?

Frisch gebackene Eltern befinden sich in einer Achterbahn der Gefühle. Das Leben und die Paarbeziehung verändern sich gravierend, und zwar in einer Form, die man sich vorher nicht hat vorstellen können. Es gibt viele Nächte mit wenig Schlaf, ein oder mehrere schreiende Babys, Stillprobleme, dazu die ständige Sorge um das Baby, ob es gesund ist, was «normal» ist. Viele Frauen sind nach der Geburt körperlich noch sehr geschwächt. Oft gibt es, neben der körperlichen, auch seelische Wunden, die man auf den ersten Blick nicht sehen kann. Die Mutter ist ab sofort 24 Stunden für ein Lebewesen zuständig und hat eine hohe Verantwortung. Es gibt kein «Zurück» und keinen «Urlaub» - ob sie das nun will oder nicht. Es ist ganz natürlich, dass auch mal Frust, Gefühle der Überforderung, Hilflosigkeit oder Aggressionen auftreten. Das hat mit den Hochglanzfotos glücklicher Mütter nichts zu tun, die uns oft präsentiert werden.

Viele schämen sich jedoch, gegen aussen diese Gefühle zu zeigen. Weshalb?

Jede mag eine «gute» und «fürsorgliche» Mutter sein und nicht als «schlechte» und «unorganisierte» Mutter gelten. Sehr oft sind Frauen mit PPD besonders bemüht darin, eine möglichst perfekte Fassade aufrecht zu erhalten. Die Angst davor, als «verrückt» oder «psychisch krank» zu gelten, als undankbar angesehen zu werden, Ängste vor einer Behandlung, vor Medikamenten oder vor einer Trennung vom Baby sind sehr häufig.

Zudem sind die Beziehungen zu anderen Müttern oft sehr oberflächlich gehalten. Mütter berichten häufig von einem Konkurrenzverhalten in Krabbelgruppen. Selten wird über die täglichen Herausforderungen und Unsicherheiten gesprochen.

Was müsste getan werden, damit das Thema nicht mehr so unter den Tisch gekehrt wird?

Meiner Meinung nach muss ein realistisches Bild vom Muttersein vermittelt werden. Wenn Models wie Heidi Klum zwei Wochen nach der Entbindung gertenschlank über den Laufsteg spazieren, muss eins klar sein: Das ist für 99 Prozent der Mütter schlicht nicht machbar, geschweige denn hätte irgendeine frisch Entbundene die Nerven für so etwas. Keine Frau soll sich dafür rechtfertigen müssen - auch nicht vor sich selbst -, wenn nicht sofort alles funktioniert und sie Probleme hat, sich in der neuen Rolle wohl zu fühlen. Präventiv kann das Thema PPD in Geburtsvorbereitungskursen angesprochen werden und Anlaufstellen sowie Wege zur Selbsthilfe aufgezeigt werden. Es muss klar werden, dass das Thema viele betrifft, es keinen Grund gibt, sich schuldig zu fühlen und man damit nicht alleine ist. Unsere Aufmerksamkeit muss weg von den Insta-Posts, die immer nur einen kleinen Ausschnitt aus einem scheinbar perfekten Leben zeigen. Damit wir diese Hochs haben dürfen, müssen wir auch durch viele Täler. Und zwar JEDE und JEDER von uns, ausnahmslos. Darüber soll und darf man auch sprechen.

Wie ungesund sind solche Vergleiche in der heutigen Zeit? Wie sehr beeinflussen sie uns?

Jedermann sollte ein Mindestmass an Medienkompetenz vermittelt bekommen, denn diese befähigt dazu, selbst zu bemerken, wann solche Vergleiche ungesund werden. Viele Mütter, mit denen ich gesprochen habe, haben die Erfahrung gemacht, dass es gerade in dieser sensiblen Phase kurz nach der Entbindung hilfreich ist, auf soziale Medien für eine Zeit lang gänzlich zu verzichten. Lieber sucht man sich Gleichgesinnte im realen Leben, die ehrlich und ungeschönt von ihren Erfahrungen berichten. Auf dieser Suche nach den Gleichgesinnten kann Social Media jedoch durchaus hilfreich sein.

Wie können sich die Betroffenen Hilfe holen? Wie sieht diese aus?

Wer bei sich oder anderen die Symptome einer PPD bemerkt, findet Hilfe beim Verein «Postpartale Depression Schweiz». Der Verein hat zum Ziel, Personen in der Schweiz zu helfen, welche unter postpartalen psychischen Erkrankungen leiden, und auch deren Angehörige zu unterstützen: www.postpartale-depression.ch. Auf der Homepage finden Interessierte Informationen, Hilfsangebote sowie einen Selbsttest. Man kann dort auch eine Patin bekommen, die selbst schon mal eine solche Erkrankung durchgemacht hat und einen eine Zeit lang begleitet. Ich selbst bin dort ehrenamtlich als Patin tätig. Ausserdem bin ich beim deutschen Pendant «Schatten und Licht e.V.» aktiv und verwalte dort die bundesweite Online Selbsthilfegruppe. Ich wohne im deutsch-schweizerischen Grenzgebiet und betreue eine regionale Selbsthilfegruppe. Generell mache ich keinen Unterschied zwischen den Nationalitäten. So kam kürzlich auch schon mal eine Mutter aus Österreich auf mich zu. Ich möchte nicht unerwähnt lassen, dass auch Männer betroffen sein können. Dieses Phänomen ist noch ziemlich unerforscht. Nichts destotrotz gibt es mittlerweile auch Gruppen für Väter, die betroffen sind.

Zum Thema Väter mehr Informationen hier.

Und wie kann ich als Aussenstehende Unterstützung bieten?

Sprechen Sie die betroffene Person darauf an und ermutigen Sie sie zu einem Selbsttest. (siehe Homepage: www.postpartale-depression.ch). Hören Sie zu. Zeigen Sie Geduld und Verständnis, ohne die negativen Gefühle und Gedanken zu bagatellisieren oder zu werten. Beziehen Sie, wenn möglich, den Partner der Frau mit ein und informieren sie ihn über die Hilfsangebote. Denken Sie daran, dass eine Frau, die voll erwerbstätig ist, in diesem Zustand zu 100 Prozent krankgeschrieben würde. Die Frau muss von ihrem Teil- oder Vollzeitberuf – Hausfrau und Mutter – so stark wie möglich entlastet werden. Beispielsweise kann man die Spitex organisieren, wenn sie es nicht selbst macht. Der Partner muss möglicherweise selbst eine Fachperson suchen, den Termin und das Kinderhüten organisieren, da die Frau vielleicht nicht mehr in der Lage dazu ist. Falls eine Medikamentengabe nötig sein sollte: der Frau die Angst nehmen! Die Folgen einer unbehandelten Depression sind gravierend für Mutter und Kind.

Sind die Depressionen heilbar? Oder gibt es die Gefahr eines «Rückfalls»?

Die Dauer der Erkrankung beträgt in der Regel mehrere Monate. Die postpartale Depression kann in Einzelfällen aber auch länger als ein Jahr andauern. Papousek stellt hinsichtlich dessen fest, dass bei 50 Prozent der Betroffenen die Symptome nach vier bis zwölf Wochen abklingen, bei 25 Prozent nach drei bis sechs Monaten und bei 25 Prozent nach sechs Monaten oder mehr (vgl. Papousek 2002, S. 203). Das Rückfallrisiko ist hoch, insbesondere bei einer weiteren Geburt, aber nicht nur. Eine Studie stellte eine Rückfallrate von 80 Prozent auch bei Frauen fest, die nach einer PPD keine weiteren Kinder hatten. Allerdings scheint das Risiko, an einer Depression zu erkranken, für Mütter kleiner Kinder allgemein erhöht zu sein, insbesondere, wenn eine Veranlagung zu Depressionen vorhanden ist.

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Manuela Bruhin

Manuela Bruhin (*1984) ist Redaktorin von «Die Ostschweiz».

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