Am 1. August 1914 erklärte das deutsche Kaiserreich Russland den Krieg, am 3. August Frankreich. Am 4. August brüllte der deutsche Kaiser Wilhelm II vor den Abgeordneten des Reichstags: "Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche!"
Darauf stimmte der deutsche Reichstag geschlossen - mit nur zwei Enthaltungen - für die Kriegskredite.
Militär und Regierung Deutschlands sahen sich zu jener Zeit von feindlichen Mächten umzingelt und glaubten, die Gegner Deutschland rüsteten für einen Krieg, den Deutschland nicht (mehr) gewinnen könne. Einziger Ausweg: Ein Präventivkrieg, solange der Gegner noch nicht genügend erstarkt sei. In jenen politisch aufgeladenen Tagen der "Julikrise" sah sich Deutschland in einem Verteidigungskrieg gegen Russland.
Wir wissen es heute besser: Jener angebliche "Verteidigungkrieg" war in Wirklichkeit ein Angriffskrieg. Heute findet sich Russland in der damaligen Rolle Deutschlands wieder: Seine Führung fühlt sich bedroht, auch sie spricht von einem "Verteidigungskrieg gegen den Westen" - und führt doch einen reinen Angriffskrieg gegen die Ukraine.
Am 4. August 1914 stimmte auch die grösste Oppositionspartei Deutschlands, die SPD, geschlossen für die Kriegskredite. Ausgerechnet die SPD!
Pazifismus und Antimilitarismus waren ja nicht irgendwelche zufälligen Attribute der Sozialisten, ein blosses Mäntelchen, das man sich in einem spontanen Impuls naiven Gutmenschentums umhängt, sondern tief verwurzelt in ihrer ideologischen Überzeugun. Wenn die Linke dem Pazifismus abschwört, ist das, als würde die FDP der Marktwirtschaft abschwören.
Für die Linke war - und unausgesprochen: ist - die Geschichte eine Geschichte von Klassenkämpfen, wie Marx es formulierte. Dabei war man nicht prinzipiell pazifistisch. Ganz im Gegenteil war Gewalt in vielen Kreisen ein legitimes Mittel zur Zielerreichung: dem Umsturz der marktwirtschaftlich-kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Der "schwarze Block" exerziert das noch heute vor - wenn auch ohne jede Aussicht auf Erfolg.
Nationalistisch motivierte Gewalt - Kriege zwischen Nationen - bringen hingegen rein gar nichts im Hinblick auf jenes Ziel. Im Gegenteil: Wenn sich deutsche Arbeiter darauf konzentrieren, französische Arbeiter abzuschlachten (und umgekehrt), dann lahmt der Kampf gegen das "Kapital".
Daher der ganze linke Internationalismus: der Schlachtruf "Internationale Solidarität", das Arbeiterkampflied "Die Internationale", die "Internationale Arbeiterassoziation" oder "Sozialistische Internationale". Internationaler geht nicht. All dies unter dem Motto: "Proletarier aller Länder, vereinigt euch!" Oder anders gesagt: Arbeiter vereinigt euch im Kampf gegen "das Kapital" - kämpft nicht gegeneinander.
Denn die Menschen in den Schützengräben - damals wie heute - sind nicht Aristokraten oder Milliardäre, sondern einfache Menschen. Gäbe es heute noch "einführende Kurse in den Marxismus", wie sie hierzulande noch in den 1980er Jahren gang und gäbe waren, dann würden die Absolventen messerscharf schlussfolgern: In den Schützengräben der Ukraine töten nicht Russen Ukrainer, sondern Arbeiter Arbeiter.
Dennoch stimmte die SPD 1914 für die Kriegskredite, mit denen Deutschland den 1. Weltkrieg entfesselte: Die Erbsünde, die grosse Schande der deutschen, damals weltweit führenden, sozialdemokratischen Partei. Man liess sich mitreissen vom patriotischen Fieber und stimmte mit ein ins militaristische Gebrüll.
Die Linke hat eine ausgeprägte traditionalistische Ader. In der heutigen, unübersichtlich gewordenen Welt schaut man gerne zurück, als die Welt noch klar und einfach gestrickt war: Hier der Arbeiter und die Arbeiterin, dort der Fabrikherr mit Zigarre und Zylinderhut. Und als der Schlachtruf Marxens lautete: "Die Proletarier dieser Welt haben nichts zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen." Heute, ja, haben die "Proletarier" auch etwas zu verlieren - zum Beispiel ihr Pensionskassenguthaben, investiert in böse kapitalistische Firmen. Komplizierte Welt!
Doch wenn man als Linker zurückblickt auf die heroisch verklärte Vergangenheit der Arbeiterbewegung, dann gerät früher oder später auch das Kainsmal, die grosse Schande der Sozialdemokratie ins Blickfeld: Die Unterstützung des deutschen Aggressionskriegs 1914.
Warum wohl war der deutsche Bundeskanzler Scholz immer ein Zauderer, wenn es um die militärische Unterstützung der Ukraine ging - gar mehr als Grünen, die ja nicht zuletzt aus der Friedensbewegung hervorgingen? Es ist die Scham darüber, wie damals, vor über hundert Jahren, die Sozialdemokraten in die Kriegseuphorie mit einstimmten.
In diesem Zusammenhang ist auch der ostentative Versuch zu sehen, die Schweiz zur Lieferung von Panzermunition an die Ukraine zu "überreden", obwohl die Gesetze in der Schweiz diesbezüglich derart klar sind, dass das Ganze zum vornherein zum Scheitern verurteilt war. Nichts anderes als ein Versuch, die eigenen Hände in Unschuld zu waschen: 'wir würden ja gerne, aber wir können nicht' - wer's glaubt wird selig.
Die sozialdemokratische Partei der Schweiz war noch gegen jedes Flugzeug und jeden Panzer, die in den Dienst der schweizerischen Armee gestellt wurden: Notfalls holte man die Kampfflugzeuge mit einer Volksinitiative vom Himmel. Gegen Kriegsmaterialexporte war man sowieso. Aber kaum ist Krieg, ist die ganze, sorgsam gepflegte, pazifistische Grundhaltung wie weggeblasen. Jahrzehntelange Opposition gegen Kriegsmaterialexporte, bewirtschaftet bei jeder sich bietenden Gelegenheit: War da mal was?
SP-Bundesrat Alain Berset sprach unlängst von "Kriegsrausch" und fühlte sich "an das Klima zu Beginn des Ersten Weltkriegs" erinnert. Dafür kassierte er ordentlich Prügel. Zu Recht?
Letztes Jahr berichtete die Presse von einer "aussergewöhnlichen und beispiellosen Hitze in der Antarktis". Tatsächlich lagen die Temperaturen teilweise über 40 Grad über dem langjährigen Mittel. Hitze? Die Temperaturen lagen immer noch im Minusbereich.
Ähnlich mit der politischen Linken. Es ist ja zu begrüssen, dass sie sich lernfähig zeigt. Und natürlich hört man von dort keine militaristischen Parolen oder Kriegsgesänge. Aber die Geschwindigkeit, mit der die Genossen eine 180-Grad-Kehrtwende vollziehen und ihren Schönwetter-Pazifismus in den Mülleimer der Geschichte werfen, ist wohl tatsächlich ohnegleichen seit 1914.
Und noch etwas vermisst man: So gerecht der Verteidigungskrieg der Ukraine ist, so ungerecht ist es dennoch, dass auch russische Soldaten sterben. Russische Soldaten abschlachten, um Putin zu bekämpfen: Wer dieser Logik anheim fällt, der unterscheidet sich weniger von Putin als er möchte. Hier wie dort werden Menschenleben als blosse Schachfiguren betrachtet - oder als etwas, das man für eine "gerechte Sache" opfern darf.
Thomas Baumann ist freier Autor und Ökonom. Als ehemaliger Bundesstatistiker ist er (nicht nur) bei Zahlen ziemlich pingelig.
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