Je mehr Kinder jemand hat, desto höher seine AHV-Rente. Dieser Vorschlag geht bezüglich der dahinter stehenden Idee komplett in die Irre - finanziell aber in die richtige Richtung.
Die AHV hat viele Konstruktionsfehler. Der hauptsächlichste: Sie funktioniert über weite Strecken wie ein Schneeballsystem. Dies zeigen die folgenden Zahlen:
Wer als Einzelperson während der vollen obligatorischen Beitragsdauer von 44 Jahren jährlich höchstens 14'700 Franken - aber wenigstens jedes Jahr den Minimalbeitrag - in die AHV einzahlt, erhält gemäss der Rentenskala 44 eine AHV-Minimalrente von 1225 Franken pro Monat oder 14'700 Franken pro Jahr. Bei einer durchschnittlichen Restlebenserwartung vom 21.3 Jahren im Alter von 65 Jahren ergibt dies insgesamt eine Rentensumme von 313'110 Franken. Diesem Betrag stehen AHV-Beitragszahlungen von maximal bloss etwa 50'000 Franken gegenüber.
Wer glaubt, mit zunehmenden Einkommen verringere sich diese Differenz zwischen Rentensumme und geleisteten Beiträgen, irrt. Für eine Maximalrente von 2450 benötigt man ein jährliches Durchschnittseinkommen von 88'200 Franken. Den zusätzlichen 313'110 Franken Rente im Vergleich zu einer Minimalrente stehen nur zusätzliche AHV-Beiträge von rund 281'000 Franken gegenüber.
Egal, wieviel jemand mit einer durchschnittlichen Lebenserwartung monatlich verdient - seien es bloss 1000 Franken oder seien es 7000 Franken - bei der AHV erhält er immer die einbezahlten Beiträge plus ungefähr 250'000-300'000 Franken als Rente ausbezahlt.
Damit eine Einzelperson ebenso viel in die AHV einbezahlt, wie sie als Rente erhält, müsste sie jährlich mindestens 160'000 Franken verdienen - Jahr für Jahr, während insgesamt 44 Erwerbs- bzw. AHV-Beitragsjahren.
Ähnlich verhält es sich bei Ehepaaren: Um mehr in die AHV einzuzahlen als ein Ehepaar maximal an Rente erhält, müsste es fast 250'000 Franken pro Jahr verdienen - Jahr für Jahr.
Bei einem Familieneinkommen von "nur" 100'000 Franken, sieht die Rechnung folgendermassen aus: Einer Rentensumme eines Ehepaars von fast 940'000 Franken stehen Beiträge von nur etwas über 380'000 Franken gegenüber. Auch in diesem Fall erhält jede Person etwa 280'000 Franken mehr, als sie einbezahlt hat. Bei einem Familieneinkommen von 120'000 Franken sind es noch 240'000 Franken mehr, bei einem Familieneinkommen von einigermassen stattlichen 150'000 Franken immer noch rund 200'000 Franken pro Person (oder 400'000 Franken pro Ehepaar).
Fazit: Der grösste Teil der AHV-Beitragszahlenden und -Rentner erhalten rund 250'000-300'000 Franken mehr an Rente ausbezahlt, als sie während ihres Lebens in die AHV einzahlen. Ob verheiratet oder ledig, ob das Einkommen tief oder mittel ist, spielt dabei kaum eine Rolle.
Die AHV ist keine "Versicherung", in der die Kinder für ihre eigenen Eltern bezahlen - sondern die aktive(n) Generation(en) zahlen für die Rentnergeneration. Damit dies langfristig aufgeht, gibt es nur diese zwei Möglichkeiten:
Entweder zahlt jede Generation gleich viel ein, wie sie später als Rente bezieht - was heute eindeutig nicht der Fall ist - oder die Generationen müssen stetig wachsen, damit ebensoviele Mittel ins System hinein fliessen wie es verlassen.
Das Wachstum der nachkommenden Generationen kann entweder dadurch erreicht werden, dass die Menschen mehr Kinder haben - oder dass sie früher Kinder haben, so dass insgesamt mehr Generationen im Arbeitsprozess vertreten sind und dadurch mehr Erwerbspersonen für einen Rentner aufkommen.
Die dritte Möglichkeit: Zuwanderung. Tatsächlich wird die AHV heute fast ausschliesslich durch die Zuwanderung vor dem Zusammenbruch bewahrt. Soll aber die heute zugewanderte Generation eines Tages auch noch eine AHV-Rente erhalten, muss die Bevölkerung der Schweiz bis Ende des Jahrhunderts wohl auf etwa 15 Millionen Personen steigen.
Der Vorschlag, dass kinderlose Personen eine tiefere AHV-Rente erhalten, geht finanziell in die richtige Richtung. Sinkt die Rentensumme, entlastet dies die AHV. Doch leider reicht es nicht, nur die Renten der Kinderlosen zu senken...
Ein gutes Rechenbeispiel dafür bietet eine Person, welche genau den Medianlohn verdient: Dieser lag (auf eine Vollzeitstelle von 40 Wochen-Arbeitsstunden hochgerechnet) im Jahr 2020 bei 6665 Franken. Dies entspricht einem Jahreseinkommen von 80'000 Franken. Üblicherweise liegt der Medianlohn unter dem Durchschnittslohn: Da aber der Medianlohn auf eine Vollzeit-Erwerbstätigkeit hochgerechnet wird und der Durchschnittslohn auch Teilzeitpensen umfasst, ist er eine gute Approximation für den Durchschnittslohn.
Eine Einzelperson mit einem Medianlohn erhält derzeit bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung im Laufe ihres Rentnerdaseins eine AHV-Rentensumme von rund 600'000 Franken ausbezahlt - zahlt selber aber nur etwas mehr als 300'000 Franken an AHV-Beiträgen.
Damit das langfristig aufgehen kann, braucht es auf einen aktuellen Rentner rund zwei Beitragszahlende - oder in diesem Fall zwei Kinder. Diese benötigen natürlich wiederum je zwei Kinder für ihre Rente. Die übernächste Generation muss sich also bereits vervierfachen.
Etwas besser sieht es bei den Ehepaaren aus: Weil die Rente auf das Anderthalbfache einer Einzelrente beschränkt ist, reichen drei Kinder für ein Ehepaar - oder 1.5 Kinder pro Kopf. Natürlich sind wir hierzulande von einem solchen Geburtenreichtum derzeit weit entfernt...
Am Beispiel einer Einzelperson lässt sich wiederum gut aufzeigen, dass sich das Problem mit einer Reduzierung der AHV-Rente für Kinderlose nicht lösen lässt, wenn sich nicht gleichzeitig die Zahl der Beitragszahlenden erhöht:
Erhalte ein kinderloser Medienlohn-Verdiener nur die einbezahlten Beiträge zurück, also rund 300'000 Franken - während ein Rentner mit einem Kind (wir halten die Bevölkerungszahl zu Illustrationszwecken stabil) nach wie vor die ganzen 600'000 Franken Rentensumme erhalte: In diesem Fall 300'000 Franken selber einbezahlte Beiträge plus die von seinem Kind einbezahlten 300'000 Franken.
Diese 300'000 Franken aber "fehlen" dann wiederum dem Kind, wenn es selbst ins Rentenalter kommt: Die nächstfolgende Generation zahlt ja selbst wiederum bloss 300'000 Franken ins System ein. Und so weiter. Der Fehlbetrag von 300'000 Franken pro Generation bleibt bestehen - und akkumuliert sich darüber hinaus im System der Altersvorsorgung, Generation für Generation.
Damit das System langfristig stabil bleibt, dürften Kinderlose gar keine Rente erhalten und Personen mit einem Kind (d.h. zwei Kinder pro Paar) nur etwa die Hälfte der jetzigen Rente (im Beispiel 300'000 Franken anstatt 600'000 Franken Rentensumme). Starker Tobak fürwahr!
Jede Leistungssenkung hilft natürlich dabei, die AHV finanziell stabil zu halten: Sei es eine generelle Rentensenkung, ein allgemein höheres Rentenalter oder eine Senkung des Rentenniveaus bzw. der Renten-Bezugsdauer nur für bestimmte Anspruchsgruppen - Kinderlose, Frauen und Büroangestellte aufgrund ihrer höheren Lebenserwartung, usw.
Daraus darf man aber nicht unbesehen den Schluss ziehen, dass Kinder für die Gesellschaft im Hinblick auf die Altersvorsorge in jedem Fall eine lohnenswerte Investition sind: Eltern, die Kinder selber betreuen, arbeiten weniger und zahlen darum wiederum weniger in die AHV ein, als sie könnten, wenn sie keine Kinder zu betreuen hätten. Zudem führen Betreuungsgutschriften schon heute zu AHV-Rentenansprüchen, denen keine Beitragszahlungen gegenüberstehen.
Auch sonst sind Kinder teuer: Die Bildungsausgaben in der Schweiz betragen Jahr für Jahr über 40 Milliarden Franken. Tragen diese Investitionen für die Kinderlosen keine Früchte (z.B. in Form von AHV-Renten) mehr, dann darf man von ihnen auch nicht erwarten, dass sie diese weiterhin mitfinanzieren.
Bisher funktionierte die AHV nach dem Prinzip, dass eine Generation für die vorhergehende zahlt. Soll die AHV so umfunktioniert werden, dass Kinder für ihre Eltern zahlen (anstatt eine Generation für eine andere Generation) werden Kinder wieder mehr zu einer individuellen "Investition" wie anno dazumal.
Aber dann geht es natürlich nicht an, dass die Erträge dieser Investition privatisiert und die Kosten sozialisiert werden. Das bedeutet: Wer Kinder will, muss auch für die gesamten Bildungsausgaben aufkommen. Oder anders gesagt: Kinderlose erhalten keine AHV mehr, zahlen dafür aber auch keine Steuern für Schulen oder Kita-Beiträge. Kostenwahrheit eben.
Die Rentenhöhe an die Zahl der eigenen Kinder zu koppeln, löst die Finanzierungsproblematik der AHV langfristig nicht. Der Grund: Auch diese Kinder generieren wiederum Rentenansprüche, welche - bei der derzeitigen Ausgestaltung der AHV - die eigenen Beiträge übersteigen.
Thomas Baumann ist freier Autor und Ökonom. Als ehemaliger Bundesstatistiker ist er (nicht nur) bei Zahlen ziemlich pingelig.
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