Der brutale Angriff Russlands auf die Ukraine offenbart die strategischen und sicherheitspolitischen Defizite der westlichen Welt. Zu sehr hat in der jüngeren Vergangenheit der tagespolitische Opportunismus die Agenda diktiert.
Zugegeben. Es ist nicht verboten, schlauer zu werden. Auch nicht als Regierung. In dieses Kapitel gehört die Ankündigung des deutschen Bundeskanzlers Olaf Scholz, 100 Milliarden Euro in die Sanierung der Bundeswehr zu investieren. Zudem will man künftig mehr als 2 Prozent des Bruttoinlandprodukts für die Verteidigung ausgeben. Die rotgrüne Regierung hat erkannt, dass der teilweise marode Zustand der Streitkräfte ein Risiko für die Freiheit und Unabhängigkeit Deutschlands darstellt.
Nachdenklich stimmt der Umstand, dass es für diese an sich banalen Erkenntnisse einen Krieg braucht. Politikerinnen und Politiker, die nicht nur alles, sondern vor allem alles besser wissen, sehen sich gezwungen, ihre Positionen über Nacht auf den Kopf zu stellen. Nicht nur das von Adenauer angesprochene Geschwätz von gestern, auch die zahllosen Studien und Expertenberichte, mit denen man über Jahrzehnte die eigenen Forderungen als alternativlos darstellte, interessieren nicht mehr.
Vergleichbares kennen wir aus der Schweiz. Immer wieder werden entscheidende politische Weichenstellungen kurzfristig und unter dem Eindruck aktueller politischer Ereignisse gefällt. So beim Ausstieg aus der Kernkraft, in der Klimapolitik, der Flüchtlingsfrage, dem Bankgeheimnis oder in der Bekämpfung der Pandemie. Was zählt, sind nicht Überzeugungen und langfristig angelegte Strategien, sondern die tagespolitische Aktualität.
Eine Tatsache, die in zweifacher Hinsicht mit den Bedingungen einer globalisierten und digitalisierten Welt zu tun hat:
Dramatische Ereignisse wie die Reaktorkatastrophe in Fukushima oder der Krieg Russlands gegen die Ukraine mobilisieren die ganze Welt. Bewegende Bilder, Luftaufnahmen, Geschichten von dramatischen Einzelschicksalen und flüchtenden Menschen erreichen uns unmittelbar und zeitverzugslos auf unserem Smartphone, fast schon als Liveübertragung. Gefühlt sind wir mittendrin. Soziale Medien machen uns zu Betroffenen und befähigen uns, das eigene Empfinden öffentlich zum Ausdruck zu bringen. Mit der Informationslogik des analogen Zeitalters hat dies alles nichts mehr zu tun. Die Behörden haben die Lufthoheit über die veröffentlichte Meinung verloren. Keine frei gewählte Regierung kann sich dem öffentlichen Druck digital mobilisierter Massen entziehen.
Verändert hat sich aber auch der Aspekt der nationalen Souveränität. In einer global vernetzten Welt kann kein Staat seine Politik losgelöst von allen anderen Staaten bestimmen. Vor allem kein Kleinstaat. Wer bei den von Grossmächten vorgegebenen Massnahmen nicht mitmacht, kommt auf eine graue oder schwarze Liste. Schweizer Banken orientieren sich nicht an der Schweizer Politik, sondern an dem von den USA beschlossenen Regelwerk. Man kann nicht riskieren, vom amerikanischen Zahlungsverkehr ausgeschlossen zu werden.
Strategische Defizite
Wie sehr sich die politischen Rahmenbedingungen verändert haben, zeigt die Kehrtwende des Bundesrates bei der Übernahme der EU-Sanktionen gegen Russland. Noch in der vergangenen Woche argumentierte die Regierung ganz im Sinne einer traditionell verstandenen Schweizer Neutralität. Weniger als eine Woche später ist dies Geschichte. Die mediale Kritik im In- und Ausland führte zu einem Umdenken. Einmal mehr wurde eine grundlegende Frage unseres Staatswesens über Nacht und ohne jede innenpolitische Diskussion beantwortet. Mit umsichtiger Staatsführung hat dies nichts, aber auch gar nichts zu tun.
Der brutale Angriff von Russland auf die Ukraine offenbart die strategischen und sicherheitspolitischen Defizite der westlichen Welt. Zu sehr hat in der jüngeren Vergangenheit der tagespolitische Opportunismus die Agenda diktiert. Statt uns um die wirklichen Herausforderungen einer sich verändernden Welt zu kümmern, führen wir auch in der Schweiz epische Diskussionen über Gendersternchen, Velowege und Wolfsbestände. Die weit wichtigeren staatspolitischen Fragestellungen jedoch bleiben aussen vor.
Digitalisierung und Globalisierung haben unsere Welt fundamental verändert. Raum und Zeit sind nicht mehr, was sie über Jahrhunderte waren. Wir können dies bedauern, nicht aber umkehren. Diese Tatsachen sprechen nicht gegen, sondern für eine strategisch aufgestellte Politik. Gouverner, c’est prévoir. Daran hat sich nichts geändert. Nur wer frühzeitig die Weichen richtig stellt, kann auf unerwartete Ereignisse rasch und mit einer langfristigen Perspektive reagieren. Operative Hektik dagegen war schon immer ein schlechter Ratgeber.
Was bleibt ist die Hoffnung, dass die Katastrophe in der Ukraine den Blick für die wirklich entscheidenden Herausforderungen unserer Gesellschaft schärft. Denn eines steht fest: Man kann zwar die Realität ignorieren, aber nicht die Folgen der ignorierten Realität (Ayn Rand).
Bild: Katie Godowski auf Pexels
Kurt Weigelt, geboren 1955 in St. Gallen, studierte Rechtswissenschaften an der Universität Bern. Seine Dissertation verfasste er zu den Möglichkeiten einer staatlichen Parteienfinanzierung. Einzelhandels-Unternehmer und von 2007 bis 2018 Direktor der IHK St.Gallen-Appenzell. Für Kurt Weigelt ist die Forderung nach Entstaatlichung die Antwort auf die politischen Herausforderungen der digitalen Gesellschaft.
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