logo

Parmelin und der 1. August

Kein Grund, zu feiern – und Spaltung von ganz oben

Vermutlich nie zuvor in der Geschichte der Schweiz gab es so wenig Grund, in Festlaune zu verfallen am Nationalfeiertag. Die Schweiz ist tief gespalten. Und ausgerechnet der Bundespräsident nimmt einen Keil und treibt ihn noch weiter in die Seele des Volks.

Stefan Millius am 01. August 2021

Grossbritannien hat die Queen. Wenn sie, selten genug, sich an die Nation wendet, kleben die Briten am Bildschirm, obschon die alte Dame selten sehr viel Neues sagt.

Die Schweiz hat Guy Parmelin. Jedenfalls in diesem Jahr in der Funktion als Bundespräsident. Also darf er auch zur Nation sprechen. Er tut das im «Blick», dem Leib- und Magenblatt des Bundesrats. Weshalb sich dieser überhaupt noch einen Bundesratssprecher leistet, ist unklar, die Zeitung macht das ja seit langem vorbildlich.

Natürlich redet Bundespräsident Parmelin, entsprechend mit Fragen gefüttert, vor allem über die Pandemie. Er benutzt Bilder. Beispielsweise das einer Bergbesteigung, wie wir inzwischen den Gipfel erreicht hätten und nun zum Abstieg ansetzen, aber dabei weiter vorsichtig sein müssen. Niemand hat Parmelin gesagt, dass die Schilderung eines Abstiegs kein besonders positives Bild ist. Vielleicht war auch nur die Sprachbarriere schuld.

Aber erstaunlicher ist: Der Bundespräsident, quasi eine Art temporärer Landesvater, versucht nicht, die Risse zu kitten, die in den letzten Monaten entstanden sind. Er versucht nicht, die Spaltung zu überwinden, Menschen zu vereinen. Er greift stattdessen Mal zu Mal zu einem Keil und treibt ihn weiter in den Graben, der sich aufgetan hat.

Parmelin sagt zum Beispiel:

«Meinem Neffen habe ich gesagt: Wenn du in die Disco willst, lass dich impfen.»

Einmal mehr geht es nicht darum, dass der bewusste Neffe gesund bleiben soll, vom Virus und vom Spitalaufenthalt verschont. Nein, er soll sich disco-reif impfen. Parmelins «Argument» deckt sich mit den laufenden Kampagnen auf Ebene Bund und Kantone: Die Gesundheit ist nicht das Thema, es ist die Freiheit, die man sich zurückholen soll. Die Freiheit, die vorher – das zeigen alle Zahlen – ohne Not genommen wurde.

Oder dann das:

«Die Frage wird sich stellen, ob die Mehrheit der Bevölkerung, die sich impfen lassen will, Konsequenzen mittragen muss, weil es eine Minderheit nicht will.»

Da ist er, der erwähnte Keil. Der Bundespräsident hetzt mit diesem Satz auf. Die Geimpften gegen die Ungeimpften. Er suggeriert: _Liebe Geimpfte, ihr habt alles richtig gemacht, und wenn der Bundesrat nach dem Sommer wieder zu drastischen Massnahmen greift, dann sind die Ungeimpften daran schuld, nicht etwa die Regierung. _

Damit löst Parmelin Wut bei einem Teil der Bevölkerung auf den anderen aus. Das ist nichts, was ein Regierungsmitglied tun soll. Es ist das Gegenteil davon. Hier werden die Schweizer buchstäblich gegeneinander ausgespielt.

Angesprochen auf die Kundgebungen gegen die Massnahmen sagt Parmelin:

«Eine solche Überzeugung nimmt bisweilen religiöse Züge an.»

Mit diesem Satz rückt Guy Parmelin die Gegner der aktuellen Politik in die Ecke der Verrückten, der Verblendeten, der blinden Eiferer. Er negiert, dass es gute Gründe gibt, die Massnahmen zu hinterfragen, wenn man den Verlauf der Coronasituation und die nackten Zahlen betrachtet. Es ist ein kurzer, banaler Satz, aber vermutlich einer der fatalsten, den ein Bundespräsident je von sich gegeben hat. Politische Gegner werden als religiöse Fanatiker gebrandmarkt.

Die Schweiz ist an diesem 1. August an einem Wendepunkt angekommen. Das Volk von einig Brüdern befindet sich in einer Art innerem Bürgerkrieg. Und statt zwischen den beiden Seiten zu vermitteln, erklärt der Bundespräsident die eine Seite zu religiösen Eiferern, die der anderen Seite Schlimmes antun.

Es geht nicht um die Frage, ob man sich impfen lässt, das ist eine individuelle Entscheidung. Es geht darum, dass von oberster Stelle erklärt wird, Ungeimpfte seien schuld an allem, was aktuell geschieht, Entscheidungen des Bundesrats eingeschlossen. Der aktuelle Chef der Regierung delegiert die Verantwortung für das, was er und seine Kollegen tun, an einen Teil der Bevölkerung und erklärt diesen damit für den anderen Teil zum Freiwild.

Wenn Guy Parmelin das alles unwissend und naiv gesagt hat, ist das schlecht. Wenn er das alles bewusst und berechnend gesagt hat, ist es schlechter.

Einige Highlights

Uzwilerin mit begrenzter Lebenserwartung

Das Schicksal von Beatrice Weiss: «Ohne Selbstschutz kann die Menschheit richtig grässlich sein»

am 11. Mär 2024
Im Gespräch mit Martina Hingis

«…und das als Frau. Und man verdient auch noch Geld damit»

am 19. Jun 2022
Das grosse Gespräch

Bauernpräsident Ritter: «Es gibt sicher auch schöne Journalisten»

am 15. Jun 2024
Eine Analyse zur aktuellen Lage

Die Schweiz am Abgrund? Wie steigende Fixkosten das Haushaltbudget durcheinanderwirbeln

am 04. Apr 2024
DG: DG: Politik

«Die» Wirtschaft gibt es nicht

am 03. Sep 2024
Gastkommentar

Kein Asyl- und Bleiberecht für Kriminelle: Null-Toleranz-Strategie zur Sicherheit der Schweiz

am 18. Jul 2024
Gastkommentar

Falsche Berechnungen zu den AHV-Finanzen: Soll die Abstimmung zum Frauenrentenalter wiederholt werden?

am 15. Aug 2024
Gastkommentar

Grenze schützen – illegale Migration verhindern

am 17. Jul 2024
Sensibilisierung ja, aber…

Nach Entführungsversuchen in der Ostschweiz: Wie Facebook und Eltern die Polizeiarbeit erschweren können

am 05. Jul 2024
Pitbull vs. Malteser

Nach dem tödlichen Übergriff auf einen Pitbull in St.Gallen: Welche Folgen hat die Selbstjustiz?

am 26. Jun 2024
Politik mit Tarnkappe

Sie wollen die angebliche Unterwanderung der Gesellschaft in der Ostschweiz verhindern

am 24. Jun 2024
Paralympische Spiele in Paris Ende August

Para-Rollstuhlfahrerin Catherine Debrunner sagt: «Für ein reiches Land hinkt die Schweiz in vielen Bereichen noch weit hinterher»

am 24. Jun 2024
Politik extrem

Paradox: Mit Gewaltrhetorik für eine humanere Gesellschaft

am 10. Jun 2024
Das grosse Bundesratsinterview zur Schuldenbremse

«Rechtswidrig und teuer»: Bundesrätin Karin Keller-Sutter warnt Parlament vor Verfassungsbruch

am 27. Mai 2024
Eindrucksvolle Ausbildung

Der Gossauer Nicola Damann würde als Gardist für den Papst sein Leben riskieren: «Unser Heiliger Vater schätzt unsere Arbeit sehr»

am 24. Mai 2024
Zahlen am Beispiel Thurgau

Asylchaos im Durchschnittskanton

am 29. Apr 2024
Interview mit dem St.Galler SP-Regierungsrat

Fredy Fässler: «Ja, ich trage einige Geheimnisse mit mir herum»

am 01. Mai 2024
Nach frühem Rücktritt: Wird man zur «lame duck»?

Exklusivinterview mit Regierungsrat Kölliker: «Der Krebs hat mir aufgezeigt, dass die Situation nicht gesund ist»

am 29. Feb 2024
Die Säntis-Vermarktung

Jakob Gülünay: Weshalb die Ostschweiz mehr zusammenarbeiten sollte und ob dereinst Massen von Chinesen auf dem Säntis sind

am 20. Apr 2024
Neues Buch «Nichts gegen eine Million»

Die Ostschweizerin ist einem perfiden Online-Betrug zum Opfer gefallen – und verlor dabei fast eine Million Franken

am 08. Apr 2024
Gastkommentar

Weltweite Zunahme der Christenverfolgung

am 29. Mär 2024
Aktionswoche bis 17. März

Michel Sutter war abhängig und kriminell: «Ich wollte ein netter Einbrecher sein und klaute nie aus Privathäusern»

am 12. Mär 2024
Teuerung und Armut

Familienvater in Geldnot: «Wir können einige Tage fasten, doch die Angst vor offenen Rechnungen ist am schlimmsten»

am 24. Feb 2024
Naomi Eigenmann

Sexueller Missbrauch: Wie diese Rheintalerin ihr Erlebtes verarbeitet und anderen Opfern helfen will

am 02. Dez 2023
Best of 2023 | Meine Person des Jahres

Die heilige Franziska?

am 26. Dez 2023
Treffen mit Publizist Konrad Hummler

«Das Verschwinden des ‘Nebelspalters’ wäre für einige Journalisten das Schönste, was passieren könnte»

am 14. Sep 2023
Neurofeedback-Therapeutin Anja Hussong

«Eine Hirnhälfte in den Händen zu halten, ist ein sehr besonderes Gefühl»

am 03. Nov 2023
Die 20-jährige Alina Granwehr

Die Spitze im Visier - Wird diese Tennisspielerin dereinst so erfolgreich wie Martina Hingis?

am 05. Okt 2023
Podcast mit Stephanie Stadelmann

«Es ging lange, bis ich das Lachen wieder gefunden habe»

am 22. Dez 2022
Playboy-Model Salomé Lüthy

«Mein Freund steht zu 100% hinter mir»

am 09. Nov 2022
Neue Formen des Zusammenlebens

Architektin Regula Geisser: «Der Mensch wäre eigentlich für Mehrfamilienhäuser geschaffen»

am 01. Jan 2024
Podcast mit Marco Schwinger

Der Kampf zurück ins Leben

am 14. Nov 2022
Hanspeter Krüsi im Podcast

«In meinem Beruf gibt es leider nicht viele freudige Ereignisse»

am 12. Okt 2022
Stölzle /  Brányik
Autor/in
Stefan Millius

Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.

Hier klicken, um die Mobile App von «Die Ostschweiz» zu installieren.