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Religiöses Bundeshaus

Kirchenmitglieder im Parlament übervertreten? Die Zahlen relativieren reisserische Medienschlagzeile

Die Zahl der Konfessionslosen nimmt zu und zu. Es gäbe mittlerweile sogar einen «Religionsgraben» zwischen Basis und Elite, fand ein Politikwissenschaftler. Stimmt diese Aussage? Eine statistische Überprüfung.

Thomas Baumann am 12. August 2024

Unlängst ‹schockierten› die Tamedia-Zeitungen die Öffentlichkeit mit einer steilen These: «75 Prozent der 246 Parlamentarier [im Bundeshaus] sind Kirchenmitglieder. Das ist eine massive Übervertretung im Vergleich zur Gesamtbevölkerung (58 Prozent).»

Auf den ersten Blick vermag dies kaum zu überraschen: Um möglichst viele Wähler anzusprechen, sind Parlamentarier mutmasslich in deutlich mehr Vereinen und Vereinigungen Mitglied als der Durchschnittsschweizer.

Wenn nicht gerade als ‹Verein›, so kann man die Kirchen mit Fug und Recht durchaus als Vereinigung bezeichnen. Ganz abgesehen vom persönlichen Glauben, wäre eine Motivation für eine solche Übervertretung somit zumindest gegeben.

Einige kleinere statistische Korrekturen

Doch was sagen die Zahlen? Zuerst einmal: Die in der Zeitung erwähnten 58 Prozent Kirchenmitglieder sind, nicht gerundet, 58,2 Prozent.

In den statistischen Daten des Bundes zur Religionszugehörigkeit gibt zudem eine Residualkategorie «Religionszugehörigkeit unbekannt». Die erwähnten 58,2 Prozent erhält man, wenn man die Mitglieder reformierter, katholischer und anderer christlicher Glaubensgemeinschaften durch das Total der Bevölkerung dividiert.

Das ist nicht ganz korrekt, denn bei Personen mit unbekannter Religionszugehörigkeit kann man nicht einfach unbesehen davon ausgehen, dass sie keine Christen sind. Genauso wenig, wie man sie einfach den Christen oder einem anderen Glaubensbekenntnis zurechnen könnte.

Es ist daher sinnvoll, diese Personen ganz aus der Betrachtung auszuschliessen. Dividiert man die Mitglieder christlicher Glaubensgemeinschaften entsprechend durch die Gesamtbevölkerung abzüglich Personen mit unbekannter Religionszugehörigkeit, beträgt der Anteil der Kirchenmitglieder 58,7 Prozent.

Gesamtbevölkerung ist nicht Wahlbevölkerung

Es ist richtig, dass Parlamentarier in gewissem Sinn die Gesamtbevölkerung repräsentieren. Noch viel mehr aber repräsentieren sie die Wahlbevölkerung. Gesamtbevölkerung und Wahlbevölkerung sind selbstverständlich nicht identisch.

Die Gesamtbevölkerung setzt sich aus stimm- und wahlberechtigten Schweizern und nicht wahlberechtigten Ausländern zusammen. Sind bei den Ausländern nur rund 43 Prozent Mitglied einer christlichen Glaubensgemeinschaft, sind es bei den Schweizern 64 Prozent.

Aus den ursprünglichen 58 Prozent sind bei genauerer Betrachtung somit bereits 64 Prozent geworden. Dies betrifft primär einmal den Nationalrat.

Beim Ständerat sieht es nochmals etwas anders aus. Weil es in kleinen Kantonen, wo die Bevölkerung tendenziell religiöser ist, weniger Stimmen für einen Sitz braucht als in den grossen, eher säkularen Zentrumskantonen, beträgt der Anteil Kirchenmitglieder am Wahlvolk für den Ständerat rund 67 Prozent.

Ständerat fällt kaum ins Gewicht

Da der Ständerat jedoch nur rund einen Fünftel aller Sitze in der Vereinigten Bundesversammlung ausmacht, fällt dieser höhere Anteil kaum ins Gewicht. Er vermag den Anteil der Kirchenmitglieder am Wahlvolk für das Parlament bloss noch um einen (weiteren) halben Prozentpunkt auf 64,5 Prozent zu steigern.

Anders wäre es, würde man nur Schweizer ohne Migrationshintergrund betrachten: Dort beträgt der Anteil der Kirchenmitglieder nach wie vor 68,5 Prozent. Schweizer mit Migrationshintergrund sind demgegenüber nur zu 47 Prozent Mitglieder christlicher Glaubensgemeinschaften.

Prinzipiell gibt es natürlich keinen Grund, zwischen Schweizern mit und ohne Migrationshintergrund zu unterscheiden. Schweizer ist Schweizer. De facto ist es aber natürlich weiterhin so, dass Schweizer mit Migrationshintergrund im Parlament deutlich untervertreten {https://www.dieostschweiz.ch/artikel/dass-personen-mit-migrationshintergrund-in-der-politik-untervertreten-sind-hat-nichts-mit-diskriminierung-zu-tun-Vl6m1mK} sind.

Scheinbare «Übervertretung» schmilzt dahin

Parlamentarier rekrutieren sich somit vor allem aus einer Grundgesamtheit von Schweizern ohne Migrationshintergrund. Dort sind, wie gesehen, 68,5 Prozent Kirchenmitglieder, bei den Parlamentariern sind es 75 Prozent.

Die scheinbar satte ‹Übervertretung› der Kirchenmitglieder von rund dreissig Prozent   — 75 : 58 Prozent — im Vergleich zur Gesamtbevölkerung schmilzt bei genauerer Beachtung der Daten dahin wie Schnee an der Sonne.

In Tat und Wahrheit ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Parlamentarier Mitglied einer Kirche ist, ‹bloss› um 10-15 Prozent erhöht im Vergleich zur wahlberechtigten Bevölkerung oder seinem soziokulturellen Herkunftsmilieu.

Diese Differenz reduziert sich noch weiter, wenn man anstatt der Wahlberechtigten das Stimmvolk nimmt, das auch tatsächlich an die Urne geht. Ältere Stimmberechtigte nehmen nämlich nicht nur öfter an Wahlen teil, sondern sind auch häufiger Mitglied einer Kirche als die übrigen Wahlberechtigten.

Letztlich dürfte in dieser Frage somit eine ziemlich gute Übereinstimmung zwischen Wählern und Gewählten herrschen: Das Parlament ist in der Frage der Religionszugehörigkeit durchaus repräsentativer, als man auf den ersten Blick glauben könnte.

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Autor/in
Thomas Baumann

Thomas Baumann ist freier Autor und Ökonom. Als ehemaliger Bundesstatistiker ist er (nicht nur) bei Zahlen ziemlich pingelig.

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