Weder im Kanton St.Gallen noch im Thurgau vermögen die Wahlen zu elektrisieren. Und das trotz spannender Ausgangslage und dem Potenzial zu grösseren Verschiebungen. Ein Kanton ist und bleibt ein anonymes, wenig fassbares Wesen. Nur national und lokal lösen Wahlen Emotionen aus.
Hält die grüne Welle an? Oder wurde sie vom Coronavirus gebrochen? Holt die St.Galler SVP den ersehnten zweiten Regierungssitz? Kann die Thurgauer SVP ihren verteidigen? Und wie sehen die kantonalen Parlamente nach dem 8. beziehungsweise 15. März aus?
Es ist nicht so, dass an diesen beiden Wahlsonntagen nichts passieren würde. Sie sind der Auftakt von vier langen Jahren, in denen sich die Stimmbürger über Entscheide der Regierung und die Handlungen der Kantonsräte freuen oder ärgern. Meist bekanntlich letzteres. Aber die Frage, wie sich diese Gremien zusammensetzen, scheint dennoch niemanden wirklich zu interessieren. Das Stimmbarometer, das die Stadt St.Gallen laufend aktualisiert, lässt nichts Gutes vermuten bezüglich Stimmbeteiligung.
Natürlich trägt die Tatsache dazu bei, dass ein weitgehend inhaltsfreier Wahlkampf betrieben wurde. Der Klimadebatte geht allmählich der Atem etwas aus, nun wurde sie erst noch von einem Virus verdrängt. Im Kanton St.Gallen ist die Spitalsituation Dauerthema, aber es gibt keine politische Kraft, die Lösungen präsentieren kann - alles reduziert sich auf gegenseitige Schuldzuweisungen. Kantonale Themen sind rar, jedenfalls solche, die sich mit einfachen Parolen fassen lassen.
Aber das Problem geht tiefer. Die Ebene Kanton ist nicht sehr sexy. National- und Ständerat: Das sind die Volksvertretungen, die aufmerksam verfolgt werden. Das gilt auch für lokale Behörden. Dort werden Entscheide gefällt, die den Alltag der Menschen ganz konkret betreffen, und man kann sie am Abend am Stammtisch diskutieren - nicht selten mit den Protagonisten einen Platz weiter.
Aber ein Kantonsrat? Der vertritt ein künstlich geschaffenes Gebilde, in dem nichts so recht zusammenpassen mag. Stadt und Land unter einen Hut bringen, den Ricken überwinden, hilflos zuschauen, wie sich periphere Gebiete zu anderen Kantonen hingezogen fühlen: Das ist die Realität der Ebene Kanton.
Eigentlich erstaunlich, dass sich beispielsweise im Kanton St.Gallen noch über eintausend Leute finden liessen, die dieses Amt suchen. Und dass jeder Zehnte von ihnen sich danach diese Arbeit antut. Prestige ist mit ihr nicht verbunden. Die meisten Bürger können eine knappe Handvoll Kantonsräte aufzählen, und auf der Strasse würden sie den Rest nicht erkennen. Das sagt natürlich nichts über die Bedeutung der Arbeit aus. Aber dankbar ist sie nicht. Und auch nicht einträglich: Selbst mit der beschlossenen Aufbesserung der Entschädigung fährt ein Kantonsrat, der in der Privatwirtschaft tätig ist und dort aufgrund des Amts Abstriche machen muss, alles andere als gut. «Man muss das wollen, ich bin 40 Sonntage pro Jahr für die Politik unterwegs», sagte unlängst ein Fraktionschef am Rande einer Veranstaltung.
Allerdings muss auch gesagt sein: Die Kantonsparlamente sind nicht unschuldig daran, dass ihre Arbeit oft untergeht. Sie tun auch nicht besonders viel dazu, sie bürgernah auszugestalten. Wirklich originelle Ideen sind selten, und wenn eine kommt, wird sie so technisch vorgetragen, dass am Ende nichts von der Vision rüberkommt. Es ist nicht einfach, kantonale Themen zu setzen, der Bund gibt vieles vor. Aber man hat auch nicht den Eindruck, dass viele wirklich suchen. Im Wahlkampf überschlagen sich alle Kandidierenden vor Engagement und rennen mit Gipfeli und Flyern Leuten auf dem Bahnhofplatz nach; kaum gewählt, verfallen viele von ihnen in Lethargie.
Derzeit liest man viel davon, dass der Kanton St.Gallen eine Fehlkonstruktion sei. Dies aufgrund seiner geografischen Verzettelung. Sicher erschwert diese die Aufgabe. Letztlich aber ist es immer die Frage, was man daraus macht. Es gab vor 20 oder 30 Jahren schlicht mehr prägende Figuren im Parlament. Politische Schwergewichte, die Mehrheiten schaffen konnten oder zumindest einem Thema Auftrieb verschafften. Und deren Name man kannte. Sie sind heute dünn gesät.
Die Regierung leidet unter einem Folgeeffekt. Wo ein Parlament kaum wahrgenommen wird, hat es auch die Regierung nicht leicht, herauszustechen. Sie muss gefordert werden, was selten der Fall ist. Was bleibt, ist eine gesichtslose Masse. Und das rächt sich an Wahlsonntagen. Das ist schade, denn letztlich ist es keine Frage: Was Regierungen vorschlagen und das Parlament beschliesst, hat Auswirkungen auf uns alle. Desinteresse ebnet den Weg für schlechte Lösungen.
Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.
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