logo

Gastbeitrag

Kommunikation und Digitalisierung: Wie viel Effizienz ist zu viel?

Die Anzahl digitaler Tools, die einfacheres und effizienteres Arbeiten als bisher versprechen, wächst und damit auch deren Nutzung. Doch gleichzeitig gibt es zahlreiche digital erschöpfte Mitarbeiter.

Gastbeitrag «Die Ostschweiz» am 20. Juli 2023

Ihr Stress bleibt auf einem Rekordhöchststand, wie das Marktforschungsinstitut Gallup herausfand. Ursächlich dafür ist die Art zu arbeiten. Geschäftsprozesse werden schneller, Innovationszyklen kürzer und der Zeitdruck steigt. Gleichzeitig wird die Kommunikation von Angesicht zu Angesicht auf das Nötigste reduziert, berichtete HR Today. Doch wo wird Effizienz warum zu viel und was bedeutet das für Entscheider?

Ein Kernpunkt: Die Digitalisierung hat dazu geführt, dass «viele Angebote bestehende Vorgehensweisen nicht abgelöst, sondern bestenfalls ergänzt haben», erläuterte Anja Rassek im Portal Karrierebibel. Ein Beispiel sind Tools zur Aufgabenplanung und zum Aufgabenmanagement, die gerne inflationär eingesetzt werden, um Absprachen unter Mitarbeitern, insbesondere an verteilten Standorten, zu ersetzen. Sie sind jedoch nach Meinung von Produktivitätscoach Ivan Blatter nicht als To-do-Listen geeignet, wenn jemand viele Aufgaben hat. Entweder werde das Board dann sehr unübersichtlich oder es werden mehrere Boards benötigt und die Verzettelungsgefahr steige. Hinzu kommt: «Zeitmanagement kostet Zeit», so die Organisationsberatung Buschmann Liss. Es ist demotivierend, wenn die Anzahl der Tasks trotz emsigster Arbeit zunimmt und nicht zuletzt bedeuten Projektmanagement-Software sowie Messenger gemäss Karrierebibel nicht nur selbstbestimmtes Arbeiten. Viele empfinden damit auch Leistungsdruck und soziale Kälte.

Multitasking – eine Falle

Dies geht damit einher, dass nur noch wenige Arbeitnehmer eine Stellenbeschreibung mit genau definierten Aufgaben haben. «Sie sollen vielmehr im Team vorgegebene Ziele erreichen», berichtete HR Today. Also seien sie von der Zuarbeit von Kollegen abhängig und müssen häufiger auf deren Anliegen reagieren. Entsprechend schwer können sie ihren Arbeitstag planen – speziell dann, wenn sich die Zielvorgaben oft wandeln. Häufig erledigen sie mehrere Aufgaben parallel. Dieses Multitasking koste Konzentration, produziere Stress und Fehler. Weiterhin gebe es nach anstrengenden Veränderungsprojekten keine Pausen mehr. In den meisten Unternehmen laufen «so viele, sich überlappende Change-, Innovations- und Transformationsprojekte parallel, dass das sogenannte Multi-Projekt-Management sich zu einer neuen Schlüsselkompetenz entwickelt hat.»

Auch die Mitarbeiterführung erfolge oft digital – per E-Mail, Chat, Online-Meetings oder gleich über das Einstellen von Aufgaben in ein Projektmanagementtool – meist ohne Erklärungen und ohne Feedback. Der Trend zu offenen Bürostrukturen, der sich Karrierebibel zufolge vor allem bei Start-ups beobachten lässt, verbessert die Situation nicht. Die Mitarbeiter seien den ganzen (Arbeits-)tag umeinander herum. Dies erfordere ein viel höheres Mass an Konzentration und führe geradewegs ins Multitasking. Denn wenn man mit zehn, zwanzig Kollegen in einer offenen Bürolandschaft sitze, klingele immer ein Telefon, laufe jemand vorbei. Kopfhörer helfen nicht wirklich, da Menschen aus dem Augenwinkel dennoch Bewegungen wahrnehmen. «Die digitalen Errungenschaften führen dazu, dass wir jederzeit mitbekommen, ob eine neue Mail eingeht, eine Whatsapp-Nachricht geschickt wurde oder ein Kollege einen neuen Kommentar zum Projekt hinzugefügt hat.» Irgendwann werde all das zu viel.

Digitale Information bedeutet Arbeit

In diesem Zusammenhang lautet eine Schlüsselerkenntnis: «E-Mails, Nachrichten und Social Media-Beiträge sind digitale Arbeit, egal ob wir sie im Büro oder nach Feierabend erledigen – sie erfordern dieselben kognitiven Fähigkeiten. Jede SMS, jede E-Mail leert unseren mentalen Tank und erschöpft uns auf die gleiche Art und Weise», wie in einem Beitrag von Antonia Götsch, Chefredakteurin des Harvard Business Managers, zu lesen ist. So komme es, dass sich selbst eine Textnachricht wie ein Mühlstein anfühlen könne. Abends fühle sie sich «leer getextet, leer gechattet, leer gezoomt».

Beim derartigen Reduzieren der zwischenmenschlichen Kommunikation auf wechselseitige Information wird HR Today zufolge Wichtiges übersehen. «Denn es macht einen qualitativen Unterschied, ob man nur die Mail einer Person liest oder ihr gegenübersitzt, ihr in die Augen schaut, ihre körperlichen Reaktionen wahrnimmt und hierauf reagiert. Das schafft eine andere Qualität der Beziehung sowie des wechselseitigen Verstehens; ausserdem eine höhere Verbindlichkeit. Deshalb ist es kein Zufall, dass bei der digitalen Kommunikation viel häufiger Konflikte entstehen und eskalieren.» Komme die persönliche Kommunikation zu kurz, fühlen sich Mitarbeiter weniger wertgeschätzt, können sich weniger als Ganzes in die Organisation einbringen und weniger mit ihr identifizieren, Erfahrungslernen werde erschwert, Flow-Erlebnisse im Team werden vereitelt und Konflikte werden nicht oder auf dem falschen Weg ausgetragen. Die Produktivität sinke.

Das Unerwartete toppt Effizienz

Damit das Gegenteil des ursprünglich Beabsichtigten nicht eintritt, sind alle gefordert, einem Zuviel an Effizienz vorzubeugen. Ein erster Schritt besteht nach Aussagen von Antonia Götsch darin, wahrzunehmen, wie viel Energie ständige Meetings, Calls und Chat-Diskussionen kosten. Dann lässt sich gegensteuern, etwa durch bewusste Entscheidungen, was wie digital oder im persönlichen Kontakt kommuniziert wird. Dies impliziert eine angemessene Nutzung von Tools – nicht so viel wie möglich, sondern so viel wie erforderlich. Das kann auch bedeuten, nicht permanent alles im Blick zu behalten. «Die beste App für Produktivität heisst ,Flugzeugmodus‘», gab Organisationsberater Martin Liss zu bedenken. Denn Arbeit werde nicht effizienter oder besser, nur weil eine ultraschicke App ständig nerve. Am Ende des Tages gehe es ums Machen und das brauche Fokus.

Vor allem Führungskräfte sind gefordert. Denn sie sind für die Rahmenbedingungen verantwortlich. Sie sollten darüber nachdenken, wie sie bei einer weitgehend virtuellen Zusammenarbeit die für den Beziehungsaufbau wichtige informelle Kommunikation fördern, so ein Tipp von HR Today. Sie müssten sich fragen, wie sie eine neue Balance zwischen Verändern und Bewahren, An- und Entspannung sowie betriebswirtschaftlichen Erfordernissen und menschlichen Bedürfnissen schaffen. Allem voran sollten sie Menschlichkeit ins Spiel bringen, um Mitarbeiter zu begeistern, wie im Blogbeitrag „Urlaub: Zeit, um aus der Effizienzfalle auszusteigen“ dargelegt ist. Dafür wiederum müssen sie Identifikationsfiguren sein, Vertrauensanker, Wertgaranten, Kommunikationsturbo und Talentmagnet. Dabei sollten sich Vorgesetzte der Reihe nach zu Vordenkern, Vorreitern sowie Vorbildern entwickeln, wie Frank Dopheide in seinem Buch «Gott ist ein Kreativer – kein Controller» beschrieben habe. Führungskräfte müssen das Unerwartete zurückholen, das Unlogische, Spielerische und etwas Neues von Wert schaffen. Denn das Unlogische bringe oft einen strategischen Vorteil. Aus dem Industriezeitalter stammende Effizienzpraktiken hingegen werden im gegenwärtigen Zeitalter von Innovation und «zu Bremsklötzen in der Entwicklung». Haben Sie also Mut zu weniger Effizienz!

Autorin: Autor: Jasmine Grabher von Nellen & Partner St. Gallen

Einige Highlights

Uzwilerin mit begrenzter Lebenserwartung

Das Schicksal von Beatrice Weiss: «Ohne Selbstschutz kann die Menschheit richtig grässlich sein»

am 11. Mär 2024
Im Gespräch mit Martina Hingis

«…und das als Frau. Und man verdient auch noch Geld damit»

am 19. Jun 2022
Das grosse Gespräch

Bauernpräsident Ritter: «Es gibt sicher auch schöne Journalisten»

am 15. Jun 2024
Eine Analyse zur aktuellen Lage

Die Schweiz am Abgrund? Wie steigende Fixkosten das Haushaltbudget durcheinanderwirbeln

am 04. Apr 2024
DG: DG: Politik

«Die» Wirtschaft gibt es nicht

am 03. Sep 2024
Gastkommentar

Kein Asyl- und Bleiberecht für Kriminelle: Null-Toleranz-Strategie zur Sicherheit der Schweiz

am 18. Jul 2024
Gastkommentar

Falsche Berechnungen zu den AHV-Finanzen: Soll die Abstimmung zum Frauenrentenalter wiederholt werden?

am 15. Aug 2024
Gastkommentar

Grenze schützen – illegale Migration verhindern

am 17. Jul 2024
Sensibilisierung ja, aber…

Nach Entführungsversuchen in der Ostschweiz: Wie Facebook und Eltern die Polizeiarbeit erschweren können

am 05. Jul 2024
Pitbull vs. Malteser

Nach dem tödlichen Übergriff auf einen Pitbull in St.Gallen: Welche Folgen hat die Selbstjustiz?

am 26. Jun 2024
Politik mit Tarnkappe

Sie wollen die angebliche Unterwanderung der Gesellschaft in der Ostschweiz verhindern

am 24. Jun 2024
Paralympische Spiele in Paris Ende August

Para-Rollstuhlfahrerin Catherine Debrunner sagt: «Für ein reiches Land hinkt die Schweiz in vielen Bereichen noch weit hinterher»

am 24. Jun 2024
Politik extrem

Paradox: Mit Gewaltrhetorik für eine humanere Gesellschaft

am 10. Jun 2024
Das grosse Bundesratsinterview zur Schuldenbremse

«Rechtswidrig und teuer»: Bundesrätin Karin Keller-Sutter warnt Parlament vor Verfassungsbruch

am 27. Mai 2024
Eindrucksvolle Ausbildung

Der Gossauer Nicola Damann würde als Gardist für den Papst sein Leben riskieren: «Unser Heiliger Vater schätzt unsere Arbeit sehr»

am 24. Mai 2024
Zahlen am Beispiel Thurgau

Asylchaos im Durchschnittskanton

am 29. Apr 2024
Interview mit dem St.Galler SP-Regierungsrat

Fredy Fässler: «Ja, ich trage einige Geheimnisse mit mir herum»

am 01. Mai 2024
Nach frühem Rücktritt: Wird man zur «lame duck»?

Exklusivinterview mit Regierungsrat Kölliker: «Der Krebs hat mir aufgezeigt, dass die Situation nicht gesund ist»

am 29. Feb 2024
Die Säntis-Vermarktung

Jakob Gülünay: Weshalb die Ostschweiz mehr zusammenarbeiten sollte und ob dereinst Massen von Chinesen auf dem Säntis sind

am 20. Apr 2024
Neues Buch «Nichts gegen eine Million»

Die Ostschweizerin ist einem perfiden Online-Betrug zum Opfer gefallen – und verlor dabei fast eine Million Franken

am 08. Apr 2024
Gastkommentar

Weltweite Zunahme der Christenverfolgung

am 29. Mär 2024
Aktionswoche bis 17. März

Michel Sutter war abhängig und kriminell: «Ich wollte ein netter Einbrecher sein und klaute nie aus Privathäusern»

am 12. Mär 2024
Teuerung und Armut

Familienvater in Geldnot: «Wir können einige Tage fasten, doch die Angst vor offenen Rechnungen ist am schlimmsten»

am 24. Feb 2024
Naomi Eigenmann

Sexueller Missbrauch: Wie diese Rheintalerin ihr Erlebtes verarbeitet und anderen Opfern helfen will

am 02. Dez 2023
Best of 2023 | Meine Person des Jahres

Die heilige Franziska?

am 26. Dez 2023
Treffen mit Publizist Konrad Hummler

«Das Verschwinden des ‘Nebelspalters’ wäre für einige Journalisten das Schönste, was passieren könnte»

am 14. Sep 2023
Neurofeedback-Therapeutin Anja Hussong

«Eine Hirnhälfte in den Händen zu halten, ist ein sehr besonderes Gefühl»

am 03. Nov 2023
Die 20-jährige Alina Granwehr

Die Spitze im Visier - Wird diese Tennisspielerin dereinst so erfolgreich wie Martina Hingis?

am 05. Okt 2023
Podcast mit Stephanie Stadelmann

«Es ging lange, bis ich das Lachen wieder gefunden habe»

am 22. Dez 2022
Playboy-Model Salomé Lüthy

«Mein Freund steht zu 100% hinter mir»

am 09. Nov 2022
Neue Formen des Zusammenlebens

Architektin Regula Geisser: «Der Mensch wäre eigentlich für Mehrfamilienhäuser geschaffen»

am 01. Jan 2024
Podcast mit Marco Schwinger

Der Kampf zurück ins Leben

am 14. Nov 2022
Hanspeter Krüsi im Podcast

«In meinem Beruf gibt es leider nicht viele freudige Ereignisse»

am 12. Okt 2022
Stölzle /  Brányik
Autor/in
Gastbeitrag «Die Ostschweiz»

Bei uns publizieren Autorinnen und Autoren mit Expertise und Erfahrung zu bestimmten Themen Gastbeiträge. Diese müssen nicht zwingend mit der Meinung oder Haltung der Redaktion übereinstimmen.

Hier klicken, um die Mobile App von «Die Ostschweiz» zu installieren.