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Gastbeitrag

Krankmachende Vorstellungen blockieren unsere Selbstheilungskräfte

Viele Erkrankungen mit ehemals noch fatalem Ausgang sind heute erfolgreich behandelbar. Doch erkennbar gesünder sind die Menschen dadurch nicht geworden. Glücklicher und lebensbejahender auch nicht.

Eingesandte Mitteilung am 20. April 2022

Überall dort, wo der Wohlstand wächst, steigt auch die Zahl vor allem chronisch kranker Menschen und multimorbider Patienten aus scheinbar unerklärlichen Gründen ebenfalls an. Oder ist es gar nicht der Wohlstand, der Menschen krank macht, sondern die Vorstellungen, denen Menschen folgen, nach denen sie ihr Leben und ihr Zusammenleben gestalten, um das zu erreichen, was sie Wohlstand, Glück und Zufriedenheit nennen? Gibt es krankmachende Vorstellungen?

Ein Blick in die medizinische Literatur und die dort vorgestellten Forschungsergebnisse über Placeboeffekte macht sehr schnell deutlich, wie heilsam die in einem Patienten geweckte Vorstellung sein kann, eine bestimmte Behandlung, meist die Verabreichung einer vom Arzt als besonders wirksam angepriesenen, aber kein wirksames Medikament enthaltenden Pille, führe zu einer raschen Heilung. Umgekehrt funktioniert das genauso.

Ist eine Person fest davon überzeugt, dass ihr etwas verabreicht oder mit ihr gemacht wird, das sie für krankmachend hält, ist es durchaus möglich und im Rahmen der sogenannten Noceboforschung auch objektiv nachgewiesen, dass diese Person aufgrund ihrer krankmachenden Vorstellung – nicht durch die unwirksame Behandlung – tatsächlich krank wird. Am Beispiel dieser sogenannten Nocebo- Effekte lässt sich die krankmachende Wirkung krankmachender Vorstellungen am leichtesten verstehbar machen.

Der menschliche Organismus verfügt über Selbstheilungskräfte, die ihre Wirkung insbesondere über die im gesamten Organismus ausgebreiteten integrativen Systeme entfalten: Das autonome Nervensystem, das Hormonsystem, das kardiovaskuläre System und das Immunsystem. Gesteuert und koordiniert wird deren Aktivität im Gehirn von neuronalen Netzwerken, die in entwicklungsgeschichtlich älteren und tiefer im Hirn gelegenen Bereichen lokalisiert sind.

Diese Netzwerke dienen der Regulation der im Körper ablaufenden Prozesse, sie haben nichts mit dem zu tun und die sind auch nicht daran beteiligt, wenn wir uns etwas vorstellen oder ausdenken. Deshalb gibt es diese Netzwerke auch schon bei den Krokodilen. Solange sie in ihren Aktivitäten und ihrem Zusammenwirken durch nichts gestört werden, ist alles gut. Sie machen dann ihren Job, sorgen dafür, dass alles im Körper möglichst gut zusammenpasst und dass es wieder kohärenter gemacht wird, wenn eine Störung dort zu einer Inkohärenz geführt hat.

Wenn jemand aber auf die Idee kommt und fest davon überzeugt ist, dass ihm etwas Bestimmtes mit Sicherheit krank mache, so führt das in den später herausgebildeten oberen und vorderen Bereichen des Gehirns, im sogenannten Frontallappen zu einer sich ausbreitenden Inkohärenz. Die dort befindlichen Nervenzellen fangen an, vermehrt zu feuern, es entsteht ein zunehmendes Durcheinander, das sehr viel Energie verbraucht und sich – solange diese beängstigende Vorstellung fortbesteht – auch auf tiefer und weiter unten im Hirn liegenden Bereiche ausbreitet, auch auf die für die integrative Regulation der Körperfunktionen zuständigen. Wenn die dort liegenden Netzwerke von diesem Durcheinander mit erfasst werden, können sie nicht mehr ungestört das tun, wofür sie da sind.

So kommt dann auch die Regulation und Integration der im Körper ablaufenden Prozesse zunehmend durcheinander. Das, was die Selbstheilung normalerweise ermöglicht, wird unwirksam, entstandene Inkohärenzen können nicht mehr ausgeglichen werden und die betreffende Person wird krank. Was dabei in ihrem Körper zuerst und am stärksten aus dem Ruder läuft, hängt von ihrer jeweiligen Konstitution, von Vorerkrankungen und spezifischen Anfälligkeiten, also ihrer «Vulnerabilität» ab.

Beängstigende Vorstellungen können also im Hirn durchaus ein gewisses, für die Aktivierung von Selbstheilungskräften ungünstiges Durcheinander erzeugen. Ausgehend von dieser Erkenntnis können wir nun der Frage nachgehen, ob auch die in den Gehirnen recht vieler Menschen verankerten, meist sogar positiv bewerteten Vorstellungen davon, worauf es im Leben ankommt, zu solchen Inkohärenzen führen und damit krankmachende Wirkungen haben. Dazu ist es wichtig, uns zu vergegenwärtigen, dass alle Menschen, überall auf der Welt, bereits mit zwei Grundbedürfnissen zur Welt kommen und dass es im Gehirn zu sehr tiefgreifenden Inkohärenzen kommt, wenn diese bei den Grundbedürfnisse nicht gestillt werden können.

Das eine ist das Bedürfnis nach Verbundenheit und Zugehörigkeit, das andere das Bedürfnis nach Selbstbestimmung, Autonomie und Freiheit. Neben diesen seelischen Bedürfnissen haben wir auch noch körperliche Bedürfnisse. Wenn wir die nicht stillen können, leiden wir an Hunger oder Durst, Schlafmangel, unzureichenden Ruhepausen zur Regeneration oder mangelnder Bewegung und körperlicher An- strengung. Auch das führt im Hirn zu einem ziemlichen Durcheinander.

Wie ist es nun mit der Kohärenz im Gehirn eines Menschen bestellt, der von der Vorstellung besessen ist, er müsse so gut wie möglich funktionieren, alle an ihn herangetragenen Aufgaben zur Zufriedenheit seiner Vorgesetzten oder Auftraggeber erfüllen, um im Leben möglichst erfolgreich zu sein? Der isst nicht dann, wenn er Hunger hat, sondern dann, wenn es in seinen Arbeitsplan passt. Der schläft nicht dann, wenn er müde ist, weil er immer noch irgendetwas zu erledigen hat. Der findet keine Musse zum Ausruhen, bewegt sich nicht genug und spürt gar nicht, dass ihm all das nicht gut tut. Er setzt sich mit seiner Vorstellung über seine Bedürfnisse hinweg, versucht sie zu unterdrücken oder nicht wahrzunehmen.

In seinem Gehirn führt das zu fortwährenden Inkohärenzen, die sich auch auf alle für die Körperregulation zuständigen Bereiche ausbreiten und die dort ablaufenden Regelprozesse so lange durcheinanderbringen, bis er irgendwann krank wird. Besonders leicht fällt die Verletzung ihrer körperlichen Bedürfnisse all jenen Menschen, die fest davon überzeugt sind, dass der Wettbewerb ein Naturgesetz sei und es daher darauf ankomme, besser, schneller, effektiver als alle anderen zu sein.

Diese Personen haben dann noch ein zusätzliches, fortwährend Inkohärenzen in ihrem Gehirn erzeugendes Problem. Konkurrenz ist ja das Gegenteil von Verbundenheit, zerstört zwangsläufig das Band, das Menschen miteinander verbindet und macht sie zu Einzelkämpfern, die ihre Interessen auf Kosten anderer durchsetzen. Menschen können aber in dieser Weise nur miteinander um die besten Plätze konkurrieren, wenn es ihnen hinreichend gut gelingt, ihr tiefes, angeborenes Bedürfnis nach Verbundenheit zu unterdrücken. Es ist noch da, aber es darf nicht hochkommen.

Die Folge ist auch hier eine andauernde, nicht mehr abstellbare Inkohärenz auf der Ebene des Zusammenwirkens unterschiedlicher Hirnbereiche. Kein Wunder, wenn Menschen krank werden, deren Leben und Zusammenleben mit anderen von der Idee beherrscht wird, erfolgreicher als andere sein zu müssen.

Genauso problematisch und auf Dauer ebenfalls gesundheitsschädigend sind all jene Vorstellungen, die einen Menschen daran hindern, sein Leben und damit sich selbst noch einmal grundlegend zu verändern. Wer der Meinung ist, er sei so, wie er ist, weil der liebe Gott ihn so erschaffen habe oder weil seine genetischen Anlagen ihn so zusammengebaut hätten oder weil Mama oder Papa oder wer auch immer ihn so erzogen und so geprägt haben, wird gar nicht auf die Idee kommen, geschweige denn aus eigener Kraft daran gehen, sich selbst und sein Leben, in dem er sich inzwischen mehr oder weniger gut eingerichtet hat, in irgendeiner Weise zu verändern.

Da sich aber das Leben und die Welt, in der wir leben, in Wirklichkeit ständig verändert, ja, verändern muss, solange es lebendig ist, fällt es solchen «Besitzstandwahrern» immer schwerer, sich an die fortwährend stattfindenden Veränderungen ihrer Lebenswelt anzupassen. Und weil sie dann über kurz oder lang mit ihren Vorstellungen immer schlechter in diese veränderte Welt hineinpassen, kommt es in ihrem Gehirnen zu immer ausgeprägteren und um sich greifenden Inkohärenzen – bis auch sie davon krank werden.

Nun lichtet sich der Nebel und die scheinbar unerklärlichen Gründe für die steigende Zahl chronisch Kranker und multimorbider Patienten in all jenen Ländern, in denen die Wirtschaft blüht und der Wohlstand wächst, werden immer deutlicher erkennbar: Es ist nicht der Wohlstand, sondern es sind die Vorstellungen dieser Menschen, die es ihnen ermöglicht haben, diesen Wohlstand aufzubauen und zumindest bis jetzt zu sichern und zu erhalten. Diese Vorstellungen, denen so viele Menschen gefolgt sind und denen noch viel mehr Menschen zu folgen bereit sind, stehen im Widerspruch zu dem, was sie brauchen, um gesund zu bleiben.

Was unsere Selbstheilungskräfte stärkt, uns gesund erhält und uns schnell wieder gesund werden lässt, ist also nicht ein Leben unter Bedingungen von «Friede, Freude, Eierkuchen», in dem alles perfekt zusammenpasst und nichts mehr stört. Solch einen paradiesischen Zustand werden wir niemals erreichen, solange wir lebendig sind. Ein Mensch, den nicht mehr berührt und der durch nichts mehr gestört werden kann, ist mausetot. Deshalb geht es auch nicht darum, dass alles so ist oder bleibt, wie wir es uns wünschen, sondern dass wir im Lauf des Lebens möglichst viele Erfahrungen sammeln, anhand derer wir lernen, wie wir einen nicht so recht passenden, inkohärenten Zustand in einen passenderen, kohärenteren verwandeln können.

«Kohärenz-Wiederherstellungs- Kompetenz-Gefühl» müsste diese beneidenswerte innere Einstellung heissen, und es ist wohl bezeichnend, dass wir bis heute noch kein einfacheres Wort dafür gefunden haben. Die Vorstellungen, mit denen wir schon seit vielen Generationen herumlaufen, bildeten die Grundlage für die Gestaltung einer Welt, in der wir möglichst alles beherrschen, kontrollieren und überwachen können. Wir sind gut funktionierende, sich selbst optimierende Besitzstandwahrer geworden.

Wenn wir wollten, könnten wir aber auch versuchen, Entwicklungshelfer zu werden, die einander einladen, ermutigen und inspirieren, sich auf das Abenteuer des Lebens einzulassen. Wie es gelingen kann, wieder gesünder und lebendiger zu werden, können wir von allen anderen Lebensformen lernen, die uns das auf ihre jeweils besondere Weise vormachen: Sie alle folgen nicht irgendwelchen fragwürdigen Vorstellungen, sondern ihren lebendigen Bedürfnissen.

Wie hatte es Hermann Hesse so treffend auf den Punkt gebracht? «Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!»

Dr. rer. nat. Dr. med. habil. Gerald Hüther

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