Kennen Sie Maria G. aus Italien? Vermutlich kennen Sie tatsächlich irgendeine Maria G. aus Italien, denn dort heissen ja fast alle Frauen Maria, und zum «G» fehlt nicht mehr viel. Diese Maria G. ist aber mehr. Sie ist eine Kronzeugin.
«Lasst euch alle impfen, es ist schrecklich!»
Ein bedeutungsschwerer Satz. Er sagt aus: Wer auch immer die Impfung gegen Covid-19 ablehnt (das ist die Impfung, nach der man weiter ansteckend ist und erkranken kann), handelt fahrlässig und wird dereinst schwer leiden. Selbst schuld! Denn sie hat es ja gesagt.
«Sie», das ist in diesem Fall die Zeugin in Person: Maria G. aus Italien. Das schreibt jedenfalls der «Blick». Ihre dramatische Geschichte schafft es bis in die Schweiz.
Maria G. war so traumatisiert von ihrer Erkrankung, dass sie ganz offensichtlich ihren Nachnamen vergessen hat und deshalb nur Maria G. heisst. Sie stellt sich aber mutig einer Kamera, wobei durch die Beatmungsmaske nicht viel von ihr zu erkennen ist. Es könnte also auch Theresa P. oder Sofia C. sein. Das spielt ja auch keine Rolle. Hauptsache, die Dame liefert einen Appell, der sich medial verwursten lässt.
Was haben wir unterm Strich? Eine Frau, die (vermutlich) in einem Spitalbett liegt und (vermutlich) das Coronavirus erwischt hat und (vermutlich) daran erkrankt ist. Drei Mal «vermutlich»: Das reicht allemal für eine fette Schlagzeile, die dazu dient, die elenden Impf-Unwilligen in Heerscharen in die Impfzentren zu treiben. Auch wenn wir über Maria (oder Theresa oder Sofia) nicht mehr erfahren. Beispielsweise, wie sie denn vor dem Virus so in Schuss war. Wie ihre Krankenakte aussieht. Warum sie letztlich (vielleicht) in einem Spitalbett liegt. Und vieles mehr. Wir kennen nur ihren Vornamen (falls er der Wahrheit entspricht).
Aber das alles reicht, um sie zur Kronzeugin der Impfkampagne im «Blick» zu machen. Wenige Tage, nachdem uns die Zeitung einen massiv übergewichtigen Amerikaner präsentiert hatte, der kurz vor seinem (nicht überprüfbaren) coronabedingten Ableben ebenfalls noch die Botschaft hinterliess, er hätte sich impfen lassen sollen. In ärztliche Behandlung begeben hat er sich übrigens aufgrund eines Sonnenbrands.
Es war wohl nicht die letzte Story dieser Art. Es lässt sich bestimmt auch ein Pedro M. aus Spanien oder ein Jorge V. aus Portugal oder ein Nils D. aus Schweden oder ein Kevin A. aus Deutschland finden, der etwas in diese Richtung zu sagen hat. Die Welt ist gross, und der Wunsch nach Bestätigung der Botschaft ist noch grösser. Jeder, der «Lasst euch impfen» in eine Kamera hauchen kann, ist aktuell eine gefragte Person. Eine kostenlose Bratwurst an der Impfstation reicht offenbar doch nicht, es muss ein bisschen mehr sein.
Natürlich ist Maria G. an dieser Stelle beste Genesung zu wünschen. Derselbe Wunsch geht an Journalisten, die eine Facebookbotschaft einer anonymen Person aus Italien an prominenter Stelle publizieren, ohne deren Echtheit überprüfen zu können.
Wobei man fair sein muss. In der Story über Maria G. (oder Theresa oder Sofia) gibt der «Blick» auch Einblick in die aktuelle Situation in Italien. Demnach habe die Zahl der Spitaleinweisungen in der vergangenen Woche um rund 36 Prozent zugenommen, «die absoluten Zahlen bleiben (…) jedoch niedrig.»
Das könnte schon fast als Entwarnung dienen. Aber aus einer Entwarnung kann man keine Schlagzeile basteln. Deshalb ist Maria G. so wichtig. Die Lage in Italien ist total entspannt, aber Maria G. ruft dazu auf, sich impfen zu lassen: Das ist doch, was zählt. Und das ist es doch, was man schreiben muss.
Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.
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