Mit Panikreaktionen wollen Unternehmen einen Reputationsschaden vermeiden, sobald sich ein Shitstorm anbahnt. Jetzt erleben wir, wie dadurch der eigentliche Schaden erst entsteht.
Hätte die französische Revolution nur aus dem hungernden und plündernden Pariser Mob bestanden, so würde Frankreich heute vermutlich von König Ludwig dem Fünfunddreissigsten regiert. Aber die Massen wurden von Anführern vorangetrieben: Danton, Robespierre, Saint-Just. Das wussten später auch Lenin und Trotzki.
Seltsam nur: Von der Revolution von heute sind keine ideologischen Anführer namentlich bekannt. Den Mob aber, den gibt es. Er treibt sich auf den sogenannten sozialen Medien herum. Dort erledigen anonyme Fanatiker missliebige Namen aus Wirtschaft und Gesellschaft, die ihren strengen und manchmal ziemlich wirren Vorstellungen von der Welt nicht gerecht werden. Die Namen der jüngsten Opfer entnehme man jeweils der Tagespresse.
Wie gelingt so etwas in einer Welt, in der angeblich internationale Multis unser Schicksal bestimmen? Die Guillotine von heute heisst Shitstorm. Am Anfang steht die wütende Attacke auf eine Person, die sich den Parolen der Tugendwächter aus den Heerlagern von #MeToo, #BLM oder #LGBTQ widersetzt. Die schreien zwar laut: «Vielfalt», «Inklusion», aber ihr Tun bewirkt stets nur mehr Einfalt und Exklusion. Nach dem bekannten Muster: Die Revolution frisst ihre Kinder.
Das Fallbeil der Guillotine bedienen sie allerdings nicht selbst. Das tun die Marketing- und Social-Media-Abteilungen der Multis, welche sich gegen heraufziehende Shitstorms dadurch zu schützen suchen, dass sie panisch Ballast abwerfen. Missliebige Produkte aus den Regalen verschwinden lassen, Beziehungen zu angegriffenen Influencern und anderen Repräsentanten kappen. Wer den Geschäftsleitungen der Multis derlei Panik-Reaktionen empfiehlt, sind oft die hippen Jünglinge und Girls aus den Social-Media-Abteilungen, auf die jedes Grossunternehmen heute angeblich angewiesen ist. Weil sonst irreparabler Reputationsschaden drohe.
Inzwischen haben Grossunternehmen wie Post, Migros, Grossbanken allerdings erlebt, wie sich die panische Behebung angeblicher Reputationsschäden selbst zum Reputationsschaden ausweitet. Wann nehmen die verantwortlichen Geschäftsleitungen ihren Mut zusammen und legen ihre trendigen Boys und Girls aus den Marketing- und Social-Media-Abteilungen an die Kandare? Die noch nicht gelernt haben, dass man Feuer nicht mit Benzin löschen soll…
Gottlieb F. Höpli (* 1943) wuchs auf einem Bauernhof in Wängi (TG) auf. A-Matur an der Kantonssschule Frauenfeld. Studien der Germanistik, Publizistik und Sozialwissenschaften in Zürich und Berlin, Liz.arbeit über den Theaterkritiker Alfred Kerr.
1968-78 journalistische Lehr- und Wanderjahre für Schweizer und deutsche Blätter (u.a. Thurgauer Zeitung, St.Galler Tagblatt) und das Schweizer Fernsehen. 1978-1994 Inlandredaktor NZZ; 1994-2009 Chefredaktor St.Galler Tagblatt. Bücher u.a.: Heute kein Fussball … und andere Tagblatt-Texte gegen den Strom; wohnt in Teufen AR.
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