Kristiane Vietze wurde kürzlich als erste Frau zur Präsidentin der IHK Thurgau gewählt. Nun setzt sie zudem zum Sprung ins Bundeshaus an. Was die FDP-Politikerin antreibt, welche Visionen sie hat und eine Analyse des Ist-Zustandes.
Kristiane Vietze, Sie präsidieren neu die IHK Thurgau. In drei Sätzen: Was ist für Sie der Kern der Kammer?
Wir sind ein branchenübergreifender, liberal geprägter Wirtschaftsverband von mehr als 640 Dienstleistungs-, Industrie- und Handelsunternehmen aus dem Kanton Thurgau. Als Interessenvertretung unserer Mitglieder wirken wir als Scharnier zwischen Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Wir analysieren, kommunizieren und handeln mit dem Ziel, optimale Rahmenbedingungen für unsere Mitgliedsunternehmen sowie für den Arbeits- und Wohnort Thurgau zu schaffen.
Industrieunternehmen haben nicht selten eine stattliche Grösse. Inwiefern ist die IHK auch für Kleinstunternehmen eine gute Anlaufstelle?
Die Grösse eines Unternehmens steht heute nicht mehr so stark im Vordergrund – auch wenn wir über 90 % der grossen Thurgauer Unternehmen abdecken. Wenn sich ein kleineres Unternehmen mit unseren Hauptthemen wie liberale Marktwirtschaft, freies Unternehmertum, Freihandel und Wettbewerb, Innovation und Bildung oder schlanker Staat identifizieren kann, ist es bei der IHK gut aufgehoben. Es erhält Zugang zu einem starken Netzwerk, spannenden Anlässen und informativen Publikationen.
Ihr Vorgänger Christian Neuweiler prägte die IHK über mehrere Jahre. Worin unterscheiden Sie sich in der Art von ihm?
Ich bin nun seit Ende April Präsidentin der IHK. Somit ist es wahrscheinlich noch etwas zu früh, um Vergleiche ziehen zu können. Zudem werden Dritte diese Frage wohl besser beantworten können. Zwei Erfolgsfaktoren der IHK sind ihre Beständigkeit sowie ihre Integrität. Wir sind ein vertrauenswürdiger Akteur, der sich mit neuen Impulsen, Themen und Ideen auch wandelt. Daran möchte ich festhalten.
In welchen Bereichen kann und muss die IHK in den nächsten Monaten und Jahren dringend aktiv werden? Wo besteht der grösste Handlungsbedarf?
Uns ist sehr wichtig, in der Bevölkerung wieder ein besseres Verständnis dafür schaffen zu können, dass wirtschaftspolitische Fragen jede und jeden betreffen. Eine prosperierende Wirtschaft ist die Grundlage für unser Wohlergehen, sie trägt massgeblich zu unserer hohen Lebensqualität bei. Ob als Konsument, Mitarbeiterin, Investor, Arbeitgeberin, Steuerzahler – wir alle sind Wirtschaft. Zudem zeigen wir auf, dass Nachhaltigkeit und Wirtschaft «Hand in Hand» gehen. Unternehmen sind Teil der Lösung, wenn es um Nachhaltigkeit und Umweltschutz geht. Sie bringen dank Innovation neue Lösungsansätze, um umweltschonender zu produzieren und Energie zu sparen.
Wie wichtig ist es hierfür unter anderem, bürgerliche Vertreterinnen und Vertreter in Bern zu haben? Wie entscheidend sind die Wahlen im Herbst 2023?
Diese Wahlen sind entscheidend, weil sie die Schweizer Politik in einer entscheidenden Phase bestimmen werden. Wir haben heute sehr viele ungelöste Themen auf dem Tisch: die nachhaltige Finanzierung der Altersvorsorge, die Weiterentwicklung der bilateralen Verträge mit der EU, die bezahlbare Sicherung unserer Energieversorgung unter Einbezug von erneuerbarer Energie, den Ausbau wichtiger Verkehrsinfrastruktur und den Erhalt von erstklassigen Bildungsangeboten. Deswegen brauchen wir eine Politik in Bern, welche die bestehende Reformunfähigkeit überwindet, mehrheitsfähige Lösungen umsetzt und damit aufhört, «Pflästerli»-Politik zu betreiben – oder stur Einzelinteressen zu vertreten.
Sie selber kandidieren ebenfalls – als National- und als Ständerätin. Wo würden Sie im Parlament den Hebel ansetzen?
Mein zentrales Ziel ist es, unserer Bevölkerung eine starke Zukunft zu ermöglichen – in wirtschaftlicher und politischer Freiheit und Sicherheit. Ich stehe für einen Thurgau, eine Ostschweiz und eine Schweiz, die den Menschen alle Chancen bietet, ein gutes Leben führen zu können. Ich verbinde Wirtschaft, Gesellschaft und Politik – weil ich alle drei Bereiche aus der Praxis bestens kenne, ich theoretisiere nicht. Diese Themen gehören zusammen, und eine funktionierende Wirtschaft ist die Basis für unsere Lebensqualität. Deswegen setze ich mich für einen starken Werkplatz ein, für sichere Arbeitsplätze, eine erstklassige Bildung, eine sichere Altersvorsorge, eine intakte Umwelt und einen schlanken Staat.
Gibt es Bereiche, in denen Sie sich abseits von der klassischen Parteilinie verorten würden?
Ich bin vollkommen unabhängig, stehe aber in der freiheitlichen Tradition unseres Landes: Unser Leben selbstbestimmt leben zu können, Verantwortung zu übernehmen, Gemeinsinn zu stärken und die ständige Weiterentwicklung unserer Gesellschaft und Umwelt zu fördern - das entspricht mir und auch dem freiheitlichen Gedankengut der FDP.
Welche Forderungen vonseiten der Linken sind für Sie absoluter Unsinn?
Ob etwas Unsinn ist, kommt auf die Perspektive an. Ich halte nichts von unnötigem Gepoltere – das macht nur Lärm, bringt aber keine Lösungen. Tatsächlich ist «Forderung» ein Wort, das von Links oft und gern gebraucht wird, und dem ich gern «Eigenverantwortung» gegenüberstelle. Es ist wichtig, sich gegenseitig zuzuhören und Anliegen wahrzunehmen. Ich pflege eine Politik des Diskurses mit dem Bestreben, gemeinsam gut schweizerische Lösungen zu finden und vorwärtszugehen. Ich habe bereits öfter die Rolle der Brückenbauerin eingenommen, das wird mir auch künftig gelingen.
Und welchen Aspekten können Sie etwas abgewinnen?
Ich mag grundsätzlich die vielfältige und offene Auseinandersetzung mit unterschiedlichsten Blickwinkeln auf ein Thema – ob von rechts oder von links oder aus der Mitte. Und vor allem mag ich gute Lösungen, die den Menschen in unserem Land dienen.
Marcel Baumgartner (*1979) ist Chefredaktor von «Die Ostschweiz».
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