«Ruäch» ist ein Film nicht über, sondern mit Jenischen. Realisiert wurde er von einem Trio mit zweifacher Ostschweizer Vertretung: Andreas Müller (Regie) und Marcel Bächtiger (Co-Autor und Schnitt) freuen sich auf die Vorpremieren Ende Monat in St.Gallen und Wattwil.
Wie macht man einen Film über Menschen, die wie die Jenischen lieber unsichtbar bleiben? Regisseur Andreas Müller beginnt zu erzählen: «Ich arbeite seit längerer Zeit an einem historischen Spielfilmprojekt mit einer jenischen Frau im Mittelpunkt. Während meinen Recherchen habe ich viele Kontakte und Freundschaften mit Jenischen aufgebaut.»
2014 artete eine Kundgebung auf der Berner Allmend aus. Jenische protestierten gegen mangelnde Stand- und Durchgangsplätze, obschon die Lebensweise der nationalen Minderheit und ihre Kultur in der Schweizer Bundesverfassung ein verbrieftes Recht ist.
Zwischen staubigen Vororten und Wäldern
«Wir sind sofort nach Nidau gefahren. Da befand sich ein Teil der von der Allmend Weggetriebenen. Diese erzählten uns von den Ereignissen, die sich in Bern abgespielt hatten. Das war der Startschuss für dieses Projekt», so der Regisseur.
Entstanden ist der Film «Ruäch», der anfangs September in die Kinos kommt. In ihm lassen Müller und Co-Regisseur und Kameramann Simon Guy Fässler Jenische zwischen staubigen Vororten in Savoyen und den Wäldern Kärntens aus ihrem Leben erzählen und wurden von ihnen in ihren Alltag mitgenommen.
Wer sind die Jenischen?
Jenische sind Angehörige oder Nachfahren einer Bevölkerungsgruppe mit traditionell reisender beziehungsweise semi-nomadischer Lebensweise. Jenische leben hauptsächlich in der Schweiz, Deutschland, Frankreich und Österreich.
Allein in der Schweiz gibt es schätzungsweise 35'000 Jenische. Schweizer Jenische sind also nicht etwa Menschen, die von irgendwoher zugewandert sind, sondern genauso Hiesige wie die Sesshaften.
Von Gaunerlisten und Kriminalisierten
Die Nichtsesshaftigkeit wurde seit der frühen Neuzeit von den Sesshaften erschwert und verunmöglicht. In der Schweiz wurden sie im 18. Jahrhundert in sogenannten «Gaunerlisten» erfasst und mit der Gründung der Nationalstaaten im 19. Jahrhundert wurde die nicht sesshafte Lebensweise richtiggehend kriminalisiert.
Im 20. Jahrhundert nahmen Ausgrenzungen, Diskriminierung und Verfolgung zu. In der Schweiz war es vor allem das zur Pro Juventute gehörende «Hilfswerk» Kinder der Landstrasse, das viel Elend und Unrecht über jenische Familien brachte: So entriss man ihnen beispielsweise ihre Kinder und brachte sie in (sesshaften) Pflegefamilien unter.
Ruäch, das ist ein Nichtjenischer
Regisseur Müller sagt: «Wir waren bei den Dreharbeiten auch an der Perspektive auf uns Ruäche interessiert. Es ist ein Dokument unserer einzelnen Begegnungen und bietet keinen repräsentativen Blick auf die Jenischen. Wir können nicht sagen: 'So sind die Jenischen'.»
Müller und Fässler wollten also keinen Film über, sondern mit Jenischen machen. Das sei ihnen gelungen, findet Filmkritiker Michael Sennhauser in seinem Blog. Unter anderem gerade, weil der Film ohne Zeitdruck entstanden sei.
Ein St.Galler als Co-Autor und im Schnitt
Mitgewirkt hat auch der St.Galler Architekturhistoriker Marcel Bächtiger. Er zeichnet als Co-Autor und war für den Schnitt verantwortlich.
«Ruäch» ist nicht das erste Projekt des eingespielten Trios. Bächtiger sagt: «Zu diesem Projekt bin ich zwar erst hinzugestossen, als Andreas und Guy bereits mit der Kamera unterwegs waren. Meine Aufgabe war es dann, das viele Material zu sichten und zu einem Film zusammenzuschneiden.»
Problem Föderalismus und Vorurteile
Nein, heute sei nicht alles gut, sagt Bächtiger bestimmt. Zwar seien Jenische als Minderheit anerkannt, doch mangle es an Stand- und Durchgangsplätzen.
Auch spukten in vielen Köpfen noch immer die jahrhundertealten Klischees und Vorurteile rum: «Zigeuner», das sind diejenigen, die stehlen.
«Haut ab dahin, wo ihr herkommt»
Müller fügt an: «Oft, wenn Leute an einem Platz, wo Jenische Halt machen, vorbeifahren, gibt es ein Hupkonzert. Sie rufen ihnen zu: 'Haut ab, und geht dorthin zurück, woher ihr kommt!'.»
Seine Erfahrung nach Beendigung des Films: Jenische sind zwar als nationale Minderheit anerkannt und geschützt, der Föderalismus und die Vorurteile verhindern jedoch, dass Jenische ihre Kultur leben können. Warum der Föderalismus?
«Grundsätzlich hat der Bund jede Gemeinde mit über 3500 Einwohnern beauftragt, den Jenischen einen Platz zur Verfügung zu stellen. In vielen Fällen wehren sich die Gemeinden aber nach Kräften gegen Durchgangs- und Standplätze. Allzu oft sind Jenische nicht willkommen», erklärt Müller.
Der Umgang mit der Bezeichnung «Zigeuner»
Der «Duden» schreibt: «Die Bezeichnung Zigeuner wird vom Zentralrat Deutscher Sinti und Roma als diskriminierend abgelehnt.» Was sagen Schweizer Jenische zum Gebrauch dieses Wortes?
Denn für einige ist «Zigeuner» auch eine gängige Eigenbezeichnung. Müller spricht von seinen Erfahrungen: «Innerhalb der jenischen Community gibt es keine fixe Position: Einige Jenische verwenden das Wort mit Stolz.»
Andere empfänden es als diskriminierend, wenn es von einer nichtjenischen Person ausgesprochen werde. Müller fügt an: «Im Film kommt das Wort vor, allerdings nur, wenn es von Jenischen selbst benutzt wird.»
Das Ersatzwort «Fahrende»
Bächtiger gibt noch zu bedenken: «Oft spricht man von Fahrenden. Doch das ist nur ein Ersatzwort für 'Zigeuner' und wird vielen Jenischen nicht gerecht, die zum Beispiel seminomadisch sind oder gar nicht mehr reisen.»
Die korrekte Bezeichnung
Das Reisen sei eine unter vielen wichtigen Komponenten jenischer Identität. Die korrekte und wertneutrale Bezeichnung aller «Ruäche» für diese nationale Minderheit ist darum schlicht und einfach «Jenische».
Hinweis
In der Ostschweiz wird der Film am Mittwoch, 30. August 2023, im St.Galler Kinok und am Samstag, 2. September 2023, im Kino Passarelle Wattwil gezeigt. Wegen grosser Nachfrage findet am Sonntag, 10. September 2023, in St.Gallen ein Zusatztermin statt. Die Filmemacher werden anwesend sein.
Mehr Informationen:
https://www.kinok.ch/index/calendar
https://kinopasserelle.ch/home
(Bildmontage: Die Ostschweiz)
Michel Bossart ist Redaktor bei «Die Ostschweiz». Nach dem Studium der Philosophie und Geschichte hat er für diverse Medien geschrieben. Er lebt in Benken (SG).
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