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Huber & Senn

«Not macht erfinderisch» - oder werdet endlich kreativ

In Krisensituationen treten bekannte Regeln plötzlich ausser Kraft, bestehende Systeme funktionieren nicht mehr. Das ist es, was kreative Energie freisetzt: Von jetzt auf gleich ist die Zukunft völlig offen. Wir alle spüren das am Arbeitsplatz, bei den Hobbies, bei Freunden und im privaten Rahmen.

Huber & Senn am 20. November 2020

Ein gewisser Druck und Stress, so sagt man, sei notwendig, damit Menschen sich aufraffen, kreativ zu werden. Und unsere Beobachtung und Erfahrung zeigt, dies ist tatsächlich so. Krisen setzen ein hohes Mass an Kreativität frei. Das Sprichwort „Not macht erfinderisch“ zeigt sich auch in der Corona-Krise als zutreffend: Neue digitale Geschäftsmodelle entstehen in kürzester Zeit, neue Konzepte gemeinsamen Arbeitens werden von heute auf morgen gelebt, Restaurants stellen auf Lieferservices um, regionale Lieferketten werden etabliert, und vieles mehr. Ein Beispiel dafür ist auch die Entwicklung von Impfstoffen in kürzester Zeit.

Krisenmanagement ist die Kunst, einerseits einen klar strukturierten Problemlösungsprozess zu etablieren, der strikten Regeln folgt und straff geführt wird. Und andererseits im Rahmen der Massnahmenfindung alle Kreativität der Welt zu ermöglichen. Und genau daran fehlt es an einigen neuralgischen Punkten der Corona-Krise.

KREATIVITÄT!!!!!!!!

Beispiele gefällig? Da hatte im Kanton Bern die Schulleiterin Christine Herrmann eine Super-Idee: Sie sah die Situation auf sich zukommen, dass aufgrund von positiven Corona-Befunden oder Sicherheits-Quarantänen immer wieder Lehrer/innen ihrer Schule ausfallen dürften. Also gestaltete sie kurzum ein Inserat, in dem sie einen «Springer» suche. Eine Lehrkraft, die sie in all denjenigen Klassen einsetzen konnte, wo die ordentliche Lehrperson ausfiel. Gratulation zu der Initiative.

Allein: Sie hatte die Rechnung ohne die Bildungsdirektion gemacht, die jetzt herausfand, dass eine solche Anstellung nicht mit den gesetzlichen Vorschriften des Kantons Bern in Einklang zu bringen sei. Und das zeigt genau, woran das Krisenmanagement scheitert: An Sturköpfen, die nicht verstehen wollen, dass eine ausserordentliche Situation nach ausserordentlichen Massnahmen und/oder Mitteln verlangt.

Ähnliches an der Front der Intensivpflegestationen. Schon zum zweiten Mal hat es die Schweizerische Gesellschaft für Intensivmedizin diese Woche geschafft, die Bevölkerung zu verängstigen, indem sie kommunizierte, die zertifizierten und anerkannten Intensivbetten kapazitäten seien vollständig ausgelastet. Was dann im Ausland, von «Der Spiegel» bis zur «New York Times» zur (verkürzten) Aussage führte, die Schweiz habe ihre intensivmedizinischen Kapazitäten erreicht.

Was natürlich nicht stimmt. Der Teufel liegt im Detail. Die alarmistische SGI-Schlagzeile bezieht sich auf die «zertifizierten» Betten. Kein Wort davon, dass die Spitäler sehr wohl noch zusätzliche Betten bereitstellen können, je nach Quelle ist von zusätzlichen 400 bis 600 die Rede. Besonders ärgerlich: Schon am 17. Juli hatten viele Zeitungen eine Meldung der sda verbreitet, gemäss SGI seien am 10. April «98 Prozent der Betten auf Schweizer Intensivstationen belegt» gewesen. Was schon damals falsch war, denn auch diese Zahl bezog sich lediglich auf die zertifizierten Betten, nicht die Gesamtzahl.

Diese Woche haben wir auf allen Kanälen viel erfahren über die zertifizierten und nicht zertifizierten Betten. Wir erfahren, dass nicht zertifizierte Betten schon nicht so gut seien. Zertifizierte Betten müssten schliesslich einen Kriterienkatalog erfüllen, der 20 A4-Seiten lang sei. Und: Das Probleme sind weniger die Betten und dazugehörigen Apparate, sondern das Personal, das nicht ausreichend zur Verfügung stehe. Denn: Pflegefachkräfte mit einer zusätzlichen zweijährigen Ausbildung zur Intensivpflegefachkraft sind Mangelware. So erzählt es die SRF-Renommiersendung «Echo der Zeit».

Nur die entscheidende Frage stellt der Journalist nicht: Was wurde denn seit Ausbruch der Pandemie getan, um Pflegefachkräfte, welche die Grundausbildung bereits haben, weiterzubilden für einen Einsatz auf einer Covid-Intensivpflegestation? Jaja, wir wissen schon: Die vollständige Weiterbildung einer Pflegefachperson für den Einsatz auf einer IPS (Intensivpflegestation) dauert zwei Jahre. Wir sind uns auch bewusst, dass Patienten, die beatmet werden müssen, hohe Anforderungen an die Pflege stellen, keine Frage.

Dennoch gehen wir davon aus, dass für die Betreuung von Covid-Patienten nicht alle Fähigkeiten benötigt werden, welche im Rahmen dieser zweijährigen Weiterbildung vermittelt werden. Hat man überlegt, ein Programm aufzulegen, um interessierten Pflegefachkräfte innerhalb von 3 Monaten die wichtigsten Kenntnisse beizubringen, damit sie jetzt in der zweiten Corona-Welle eingesetzt werden könnten?

Wir haben der SGI genau diese Frage gestellt. Die Antwort des Pressesprechers im Wortlaut: «Die gesamte Behandlung kritisch kranker Patientinnen und Patienten mit und ohne COVID-19 erfordert spezifische Fähigkeiten, die Fachärztinnen und -ärzte für Intensivmedizin und Intensivpflegefachpersonen sich in langjähriger Ausbildung aneignen und durch Fort- und Weiterbildungskurse aufrechterhalten. In der Intensivmedizin ist dieses Fachpersonal begrenzt, deshalb wird bei Personalmangel auf fachfremdes Personal zurückgegriffen, welches die Fachärztinnen und -ärzte für Intensivmedizin und Intensivpflegefachpersonen unterstützt.»

Nun, das ist auch eine Antwort, nur nicht auf unsere Frage. Wir gehen deshalb davon aus, dass die korrekte Antwort «Nein» gelautet hätte.

Und da sind wie wieder beim Problem. Krisenlagen verlangen nach kreativen Lösungen. Was auch immer die Gründe waren, es nicht zu tun: Bequemlichkeit oder Standesdünkel, rechtliche Fragen, mangelnde Finanzen oder irgendwelche organisatorischen Hindernisse: Willkommen im Land der Bedenkenträger und Verhinderer. So auf jeden Fall löst man eine Krise nicht.

Und noch ein letzter Punkt: Unsere Wehleidigkeit. Ja, eine Krisenlage ist streng und verlangt von allen Involvierten viel ab. Das hat eine Krise so in sich. Da sind dann halt mal längere Arbeitstage verlangt. Oder dass das Büro nach Hause verlegt werden muss, wo vielleicht auch noch Kinder rumsitzen. Oder das grosse Thema immer noch auf allen Kanälen: Masken Ja oder Nein! Natürlich sind die Gesichtswindeln unangenehm. Aber Leute: Sind das die grossen Herausforderungen? Ernsthaft jetzt? Zum Vergleich: Damals, als wir Militärdienst leisteten (und das ist nicht so lange her), begann der Arbeitstag morgens um 7 Uhr und endete oft erst um 22Uhr. Mit je einer Stunde Mittags- und Abendpause. Und teilweise stundenlang mit einer Schutzmaske über das ganze Gesicht – nicht mit einer Hygienemaske über Mund und Nase. Und: Wir haben’s überlebt.

Und wir gehen noch etwas weiter zurück. Wir erinnern uns gut an Schilderungen unserer Eltern, die noch während des zweiten Weltkriegs aufgewachsen waren. Sie erzählten, wie sie trotz Verdunkelung abends in St. Gallen zum Peter-&Paul hoch stiegen, um von dort zu sehen, wie das deutsche Bodenseeufer von den Alliierten bombardiert worden war und im Vollbrand stand. Zusätzlich zur ständigen Sorge darum, nicht auch in den Krieg hineingezogen zu werden, musste die Elterngeneration dieser Zeit die Nation mit Lebensmitteln versorgen – Stichwort «Anbauschlacht» - und viele Männer leisteten Aktivdienst. Das waren Herausforderungen! Und zwar nicht für Monate, sondern für Jahre.

Und wir jammern im Jahr 2020, dass wir unsere sozialen Kontakte einschränken müssen (verglichen mit Frankreich, Spanien oder andere Länder ist unser Lockdown ein Witz) und uns für einige Monate mit Netflix oder dem TV-Programm begnügen müssen, weil wir nicht in die Kinos können und keine Konzerte stattfinden. Wie würde der legendäre Ostschweiz-Chefredaktor Hermann Bauer wohl sagen: «Gad ase».

Bei den Jugendliche sieht es ebenfalls dramatisch aus. Sie würden ihre Jugend verpassen, weil sie am Samstagabend nicht in den Clubs abhängen könnten, heisst es allenthalben auf Insta, TikTok und Co. Wir haben eben in die SF-mySchool-Serie «Der Krieg und ich» reingeschaut. Ein Blick dürfte jedem aufzeigen, dass die Situation viel, wirklich viel dramatischer sein kann. Kollege Gabathuler (nicht der FDP-Kandidat) würde jetzt einfach sagen «Schnauze Fury».

Und die älteren Mitbürgerinnen und Bürger? Sie beklagen sich, dass sie isoliert sind in ihren Heimen und keine Besuche empfangen dürfen. Allenthalben wird (meist von den Verwandten) gewarnt vor den psychiatrischen Schäden, welche wir davontragen werden. Soso, liebe Leute, es gibt immer noch Telefone, die meisten heutzutage sogar mit bewegtem Bild. Wenn uns diese gegenwärtige Pandemie als Gesellschaft so kaputtmacht, wie wollten wir eine wirkliche Krise bewältigen können?

Wohlverstanden, wir reden nicht von denjenigen, die tatsächlich um Ihre Existenz bangen, weil sie keine Aufträge mehr haben oder ihre Betriebe schliessen mussten. Das ist dramatisch, keine Frage. Und diese Leute müssen Unterstützung erfahren, denn ihre Probleme sind real. Viele jammern aber auch grad auf höchstem Niveau. Sie belegen, dass wir über Strecken eine verweichlichte Gesellschaft geworden sind, ohne Resilienz. Vielleicht geht es uns tatsächlich immer noch zu gut.

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Autor/in
Huber & Senn

Roger Huber (1964) und Patrick Senn (1969) sind ehemalige Ostschweizer Journalisten, die lange Jahre bei nationalen Medientiteln gearbeitet haben. Heute unterstützen Sie Organisationen und Führungskräfte in der Krisenkommunikation und sind Gründungsmitglieder des Verbandes für Krisenkommunikation vkk.

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