Wenn selbst die seriöse NZZ über «Thurgauner» und «Thurgaunereien» spottet, dann muss es schlimm stehen um einen Kanton. Daran sind nicht nur Skandale und Skandälchen schuld.
O Thurgau du Heimat, du hast es nicht leicht! Ein südamerikanischer Milliardär, der sich eine Corona-Impfung in jenem Kanton erkauft, der am Ende der schweizerischen Impfrangliste steht. Ein Wahlbetrug in Frauenfeld, der erst nach dem Eingreifen der Justiz aufgeklärt wurde. Eine Regierung, die bei einer Ersatzwahl in corpore erklärt, wen sie gerne als neuen Kollegen hätte. Der Thurgau steht zurzeit nicht gut da im Urteil der Medien. Nachdem er dort meistens gar nicht vorkommt. Was einem Diaspora-Thurgauer wie mir dann fast lieber wäre.
Dabei, denkt er, gäbe es doch so viel Schönes und Gutes über seinen Heimatkanton zu berichten. Der weitherum immer noch, mit bausündlichen Einschränkungen, wie ein Garten anzuschauen ist. Über fleissige Bewohner verfügt, die zu den bravsten Soldaten der Schweiz gehören. Über unzählige erfolgreiche Klein- und Mittelbetriebe und einige grosse dazu. Ein reiches, aber selten spektakuläres kulturelles Leben. Das geht alles seinen unaufgeregten Gang. Kein Stoff für die Medien, die ja nicht über die Norm, sondern über das Abweichende, über Brüche und Absonderlichkeiten berichten.
Das ist Fluch und Segen dieses undramatischen Kantons: Dass man bei seiner Beschreibung rasch einmal bei der Topographie landet. Die sich ja wahrlich sehen lässt. Schon Chr. Meiners, Professor der Weltweisheit an der Universität Göttingen, lobte sie 1788 wie folgt: «Wegen der amphitheatralischen Erhebung des Thurgaus deckt kein Gegenstand den andern.» Dichter haben die Hügel, vom Seerücken bis zu den weiss schimmernden Gipfeln des Alpenkamms aufsteigend, immer wieder beschrieben. Auch Friedrich Hölderlin, auf seinem Weg zur Hauslehrerstelle in Hauptwil, hatte dieses Bild vor Augen, betrat er den Thurgau doch auf seiner Fussreise in Konstanz. Nirgendwo sonst lässt sich das Amphitheater namens Thurgau besser betrachten. Das Problem ist nur: Konstanz, die Theaterbühne, auf die die Zuschauer blicken, gehört nicht dazu. Der Mittelpunkt, auf dem sich seit jeher Dramatischeres abgespielt hat als in Weinfelden oder Frauenfeld, gehört zu Deutschland.
So fehlt dem schönen, vielfältigen Kanton ein urbanes Zentrum. Regionale Zentren – die Hauptstadt Frauenfeld ist auch nicht mehr als das – sind Zentrifugalkräften ausgeliefert, nach Winterthur und Zürich, oder nach St.Gallen. Und wer glaubt, der Bodensee verbinde, der träumt: Der Bodensee trennt, sogar dort, wo er als Untersee nur eine schmale Rinne bildet. Daran ändert keine Bodenseekonferenz ergrauter Alt-Politiker etwas.
Die Zentrifugalkraft wirkt sich auch auf die junge, gebildete Thurgauer aus, die nur selten in ihre Heimat zurückfinden. Was sollten sie da? Der Traum, dass die einstige Reform-Uni Konstanz zur akademischen Bildungsstätte für Thurgauer werde, blieb immer ein Traum. Der Thurgau entwickelt keine Sogwirkung, und manchmal denkt man sogar: Er will auch keine haben. Er ist sich allzu oft selbst genug. Wie auch immer: Die Musik spielt woanders – der Thurgau ist höchstens Kammermusik. Die ist ja auch schön.
So gibt es denn für die schweizerischen Leitmedien aus dem Thurgau kaum Gewichtiges aus Wirtschaft, Kultur und Politik zu berichten. Da muss ein epischer Streit zwischen einem renitenten Pferdehalter und Tierquäler reichen, der dem Veterinäramt und Regierungsrat zum Gaudi der Zürcher Medien jahrelang auf der Nase herumtanzt.
Weil der Thurgau noch immer ein überschaubares Gebilde ist, nennt er sich stolz einen «Kanton der kurzen Wege». Einige haben die Formel als «Kanton der Abkürzungen» missverstanden. Dass ihre allzu kurzen Wege nicht immer den Governance-Regeln der Neuzeit entsprechen, nimmt man in Kauf, solange streitbare Geister wie der Weinfelder Journalist Markus Schär oder eben ausserkantonale Medien keinen Skandal entdecken. Oder einen Skandal daraus machen, wie so mancher Thurgauer denkt. Ich erinnere mich an die Geschichte einer Schulhauseinweihung, an welcher zwei Thurgauer Regierungsräte teilnahmen. Schade, klagte der Lehrer, dass es nicht noch für ein Klavier gereicht habe. «Bewilligt», schnarrte der Finanzdirektor und Oberst, der neben dem Erziehungschef sass.
Vor Jahrzehnten gab mir ein lieber Freund und Geschäftsmann, Zünfter und passionierter Reiter dessen Familie seit Jahren in der Zürcher Bahnhofstrasse verwurzelt war, folgende Weisheit mit auf den Weg: «In der Schweiz gibt es keine Korruption. In der Schweiz kennt man sich.» In Zürich, das sich ja gerne als Mittelpunkt der Schweiz betrachtet, sind diese Zeiten schon ziemlich lange vorbei. Im Thurgau kennt man sich immer noch.
Gottlieb F. Höpli (* 1943) wuchs auf einem Bauernhof in Wängi (TG) auf. A-Matur an der Kantonssschule Frauenfeld. Studien der Germanistik, Publizistik und Sozialwissenschaften in Zürich und Berlin, Liz.arbeit über den Theaterkritiker Alfred Kerr.
1968-78 journalistische Lehr- und Wanderjahre für Schweizer und deutsche Blätter (u.a. Thurgauer Zeitung, St.Galler Tagblatt) und das Schweizer Fernsehen. 1978-1994 Inlandredaktor NZZ; 1994-2009 Chefredaktor St.Galler Tagblatt. Bücher u.a.: Heute kein Fussball … und andere Tagblatt-Texte gegen den Strom; wohnt in Teufen AR.
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