Zeit, die Korken knallen zu lassen: Die wirtschaftsnahe Denkfabrik Avenir Suisse hat nämlich vor Kurzem herausgefunden, dass man mit dem öffentlichen Verkehr in keiner anderen grösseren Schweizer Stadt schneller unterwegs ist als in St. Gallen. Was sind die Gründe dafür?
St. Gallen vor Biel und Luzern, Zürich auf dem vierten Platz. Am Schluss der Tabelle: Genf. So sieht die Rangliste der zehn grössten Schweizer Städte in punkto Geschwindigkeit des ÖV aus.
Wer glaubt, der letzte Platz Genfs erkläre sich dadurch, dass keine andere schweizerische Stadt eine auch nur annähernd so hohe Bevölkerungsdichte aufweist wie Genf und die tiefe ÖV-Geschwindigkeit daher rührt, dass sich quasi die gesamte Bevölkerung auf kurzen Distanzen durch die überfüllte Innenstadt quält, hat die Rechnung ohne den Wirt, beziehungsweise Avenir Suisse, gemacht.
Es ist korrekt: Auf längeren Strecken erreicht der öffentliche Verkehr tatsächlich höhere Geschwindigkeiten. Um nicht Äpfel mit Birnen, d.h. Städte mit mehrheitlich kürzeren und längeren zurückgelegten ÖV-Strecken miteinander zu vergleichen, hat Avenir Suisse daher die Streckenlängenprofile der Städte vereinheitlicht, bevor es die Durchschnittsgeschwindigkeit berechnete.
S-Bahn als ‹Beschleuniger›
Doch wie erklärt Avenir Suisse selbst das gute Abschneiden von St. Gallen? Die S-Bahnstrecke Winkeln - St. Gallen – St. Fiden trage «einen grossen Anteil zur guten Transportgeschwindigkeit bei», schreibt die Denkfabrik in ihrer Analyse.
Auf Rückfrage mochte Avenir Suisse das allerdings nicht mehr bestätigen und schrieb: «Es ist eine Vermutung. Wir haben die ÖV-Geschwindigkeiten rein statistisch untersucht und nicht die spezifischen Gründe für die Ergebnisse analysiert.»
Was auffällt: St. Gallen und Biel, die beiden Spitzenreiter, die mit doch deutlichem Abstand vor allen anderen Städten die Tabelle anführen, sind beides geografisch eher langgezogene Städte im Gegensatz zu eher kreisrunden Städten.
Und hier kommt die Methodik der Studie ins Spiel: Untersucht wurde nämlich nicht das tatsächliche Nutzerverhalten, sondern bloss die Verbindungsgeschwindigkeit zwischen zwei zufällig ‹gezogenen› Adressen.
Realitätsfremde Methodik
Bei Städten, die sich relativ weit von einem Zentrum nach Westen respektive nach Osten ausdehnen, wie beispielsweise St. Gallen, dürften daher relativ viele Verbindungen resultieren, welche ihren Start- und Zielpunkt in den Aussenquartieren auf der jeweils einen Seite des Stadtzentrums haben und deswegen das Stadtzentrum gar nie zu queren brauchen.
Bloss: Entspricht dies auch dem tatsächlichen Nutzerverhalten, fahren ÖV-Benutzer tatsächlich oft zwischen Aussenquartieren hin- und her? Zweifel sind angebracht.
Avenir Suisse versucht zwar, diesem Einwand Rechnung zu tragen, indem es Verbindungen, welche ihren Anfangs- oder Endpunkt im Stadtzentrum haben, doppelt gewichtet, d.h. doppelt zählt. Doch das ist reichlich approximativ.
Noch extremer ist es im Fall von Biel: Dort liegt nämlich das Stadtzentrum im Westen der Stadt (fast) am See. Kaum eine Verbindung zwischen zwei zufällig ausgewählten Adressen braucht somit das Stadtzentrum zu queren. In der Realität fahren aber die meisten Passagiere ins Zentrum.
Die Studie geht weiter davon aus, dass die ÖV-Benutzer genau zum Zeitpunkt der Abfahrt der Verkehrsmittel an der Haltestelle eintreffen und dort keine Wartezeit haben. (Berücksichtigt wird nur die Wartezeit beim Umsteigen.)
Lässt man hingegen die ÖV-Benutzer rein zufällig an der Starthaltestelle ankommen, so dass sie dort gegebenenfalls ebenfalls eine gewisse Wartezeit in Kauf zu nehmen haben, dann ändert sich das Bild.
Durchschnittsgeschwindigkeit nicht entscheidend
Biel fällt deutlich zurück: Einerseits gibt es relativ lange Wartezeiten, andererseits sind die mit dem ÖV zurückgelegten Strecken relativ kurz. Für die Durchschnittsgeschwindigkeit ein ‹toxischer› Mix. Dabei ist noch nicht einmal berücksichtigt, dass die Busse in Biel nach neun oder zehn Uhr abends teilweise nur noch im 30-Minuten-Takt fahren.
St. Gallen kann den Spitzenplatz hingegen verteidigen, Zürich ist neu auf dem zweiten Platz. Das zeigt: Die Ergebnisse bezüglich der Effizienz des öffentlichen Verkehrs in St. Gallen sind relativ robust und hängen nicht von den gewählten Spezifikationen des Modells ab.
Oder anders gesagt: Selbst wenn man die Parameter ändert, bleibt St. Gallen vorne. (Anmerkung: Berechnungen durch den Autor, nicht durch Avenir Suisse.)
Und Genf? Genf bleibt trotz kurzer Wartezeiten am Tabellenende. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen: Die Genfer legen zumeist kurze Strecken im ÖV zurück — und dürften darum trotz langsamem ÖV letztlich weniger Zeit mit Pendeln verbringen als Bewohner etlicher anderer Städte.
Denn darauf kommt es letztlich doch an: Wie schnell man vom Start- zum gewünschten Zielpunkt kommt und nicht auf eine abstrakte «Durchschnittsgeschwindigkeit».
Trotzdem kann und darf man sich in St. Gallen natürlich über das gute Abschneiden in Sachen ÖV-Geschwindigkeit freuen.
Thomas Baumann ist freier Autor und Ökonom. Als ehemaliger Bundesstatistiker ist er (nicht nur) bei Zahlen ziemlich pingelig.
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