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Provokanter Begriff

Ostschweizer Autor rechtfertigt sich: Weshalb er das Wort «Krüppel» überhaupt in den Mund nimmt

«Jeder Krüppel ein Superheld» - Christoph Keller stellt das Buch am Networkingtag näher vor. Und erzählt darüber, wie es sich im Rollstuhl anfühlt, für eine kurze Strecke im Museum fünfzig Minuten zu brauchen, wenn andere diese in wenigen Minuten schaffen.

Manuela Bruhin am 05. Juli 2023

Sie referieren am Networkingtag zum Thema «Jeder Krüppel ein Superheld». Weshalb dürfen Menschen mit einer Behinderung «Krüppel» sagen, andere nicht?

Sagt es ein Nicht-Behinderter, ist es eine schlimme Beleidigung – sagt es ein behinderter Mensch, so ist es ein Schutzschild eben gegen dieses Wort, ein Ausdruck von Stolz. Ich sage dann: Ich stehe zu mir, zu meinem Körper und was ich mit ihm alles machen kann. Auch will ich auf die Gefahr hinweisen, dass es allzu oft vorkommt, ein netteres Wort über das Problem zu kleben, um das Problem nicht mehr angehen zu müssen.

Das Thema lautet auch «Superkraft». Was würden Sie als Ihre Superkraft benennen?

Meine positive Einstellung, meine Fähigkeit – vor allem zusammen mit meiner Frau -, diese mühsamen Probleme, die ich immer wieder habe, weil meine Erkrankung progressiv ist, zu lösen, meine Abenteuerlust, auch wenn sich diese immer mehr ins Geistige verlagert -, meine Freude an kleinen Ritualen, natürlich mein Schreiben und vor allem, mein Nicht-aufs-Maul-Sitzen, wenn es um Missstände geht.

Sie beschreiben Ihren Alltag, wie sie ihn erleben, worin die Herausforderungen liegen. Machen Sie das grundsätzlich gerne? Oder sind Sie auch einmal «müde», das Gleiche zu wiederholen?

Nicht sonderlich. Es ist anstrengend und tut weh, wirkt aber auch kathartisch. Ich mag es aber lieber, Romane zu schreiben. Da kann ich die Welt selber einrichten.

Was würden Sie denn als die grösste Herausforderung im Alltag beschreiben?

Dass er sich so stur nicht ändern will. Kann es denn sein, dass es in der Altstadt St. Gallen kein einziges öffentliches barrierefreies WC gibt, dass der Zugang zur Hauptpost noch Jahrzehnten noch nicht besser gelöst ist? Dauernd Selbstverständliches einfordern ist frustrierend.

Gab es einen Moment, in welchem Sie ihr Schicksal angefangen haben, zu akzeptieren?

Das war, als ich meinen Erinnerungsroman «Der beste Tänzer» geschrieben habe. Da habe ich mich diesem Thema – letztlich mir als anderer Mensch – gestellt. Das war wichtig, das war Akzeptanz. Davon zehre ich noch heute, deshalb habe ich auch das Nachfolgebuch «Jeder Krüppel ein Superheld» geschrieben, deshalb engagiere ich mich auch öffentlich.

Und auf der anderen Seite: Wie oft sind die Momente da, in welchen man hadert?

Da gibt es täglich ein paar. Das gilt für alle. Wer das bestreitet, nun, ich würde es nicht glauben.

Sie sagen, Sie haben akzeptiert, dass die Diagnose «Leben» heisst. Was meinen Sie damit?

Ja, das müssen doch alle akzeptieren. Es ist dies unser Leben, so wie es nun einmal ist. Und würden wir nicht stets alles für uns schwieriger machen, wären wir mit unserer Umwelt nicht so egoistisch zerstörerisch, es wäre so wunderbar. Einer meiner Lieblingsschriftsteller, Bohumil Hrabal, hat sich zum Motto gemacht: Das Leben ist wunderschön. Nicht, dass es so wäre, aber ich sehe es so.

Sie haben 22 Jahre in Amerika gelebt. Sind die Herausforderungen dort ähnlich wie in der Schweiz oder eher nicht?

1990 wurde da ein scharfes Behindertengleichstellungsgesetz mit Klagerecht eingeführt. Das hat das Land in wenigen Jahren viel barrierefreier gemacht. In der Schweiz kam ein weit lahmeres Gesetz 14 Jahre später. Ohne Klagerecht. Deshalb warten wir noch immer auf endlos viele Selbstverständlichkeiten.

Haben Sie mit Ihrer Offenheit und Bemühungen Erfolgsmomente erlebt, von denen Sie zehren?

Bei jedem Auftritt! Ich frage mich vorher jedes Mal: Weshalb nur tue ich mir das an? – Und habe jedes Mal so gute Begegnungen und Reaktionen, dass ich es mir wieder antue. Weil es auch mich weiterbringt.

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Autor/in
Manuela Bruhin

Manuela Bruhin (*1984) ist Redaktorin von «Die Ostschweiz».

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