Wir können miteinander kein kritisches Gespräch mehr führen, trotz all den sozialen Netzwerken und den technischen Errungenschaften, die wir zur Hand haben, weil wir in Widersprüchen stecken. Ein Gastbeitrag von Fasil Merawi und Marcel Emmenegger.
Ein Gastbeitrag von Fasil Merawi, Philosophiedozent, Addis Abeba und Marcel Emmenegger, Sozialarbeiter, Herisau. / Bild: Paul Arps, Flickr
«Haben Sie sich ein Luftschloss gebaut? Grandios, dann steht es genau da, wo es hingehört. Und nun gehen Sie bitte an die Arbeit und legen ein Fundament darunter.» - Henry David Thoreau
Die Welt, in der wir leben, ist gespaltener denn je. Wir leben in einer Welt, in der Menschen aus verschiedenen Gesellschaftsschichten und mit unterschiedlichen Weltbildern kein Gespräch mehr über Themen, die uns alle betreffen führen können, ohne dass wir uns gegenseitig als Gesinnungsdiktatoren oder Wutbürger beschimpfen. Wir reden nicht mehr miteinander, wir widerlegen keine Argumentationsketten, eigentlich bezichtigen wir einander nur noch. Bezichtigen heisst, jemandem in anklagender Weise die Schuld für etwas geben.
Was hat uns in diese beklagenswerte Situation gebracht?
Wir gingen einmal von davon aus, dass wir in einer modernen Welt leben, in der Bildung und liberale Denkweisen zunehmen würden. Aber es wird immer offensichtlicher, dass sich die Unterschiede zwischen uns vertiefen, umso «zivilisierter» wir werden. Traditionelle Werte wie gegenseitiger Respekt, Taktgefühl und Höflichkeit gehören im frühen 21. Jahrhundert nicht mehr zu unserem sozialen Werkzeugkoffer. Aber genau diese Werte ermöglichten es uns einst, «anständig» miteinander zu kommunizieren.
Die unzähligen Sagen, Mythen und Erzählungen, die in jeden Regionen der Welt entstanden sind, hatten unter anderem zum Ziel, die Unterschiede zwischen uns Menschen aufzuzeigen. In dieser hypermodernen, durchglobalisierten Welt läuft es jedoch auf eine politisch und wirtschaftlich vorangetriebene Synthese der Kulturen hinaus. Es scheint völlig gleichgültig, wie grundverschieden die Menschen auch sein mögen. In unserer Lebenswelt erleben wir daher zuweilen etwas anderes, als eine gelungene Synthese der Kulturen.
Mit dieser widersprüchlichen Situation sind wir überfordert. Wir können miteinander darüber jedoch kein kritisches Gespräch mehr führen, trotz all den sozialen Netzwerken und den technischen Errungenschaften, die wir zur Hand haben.
Wir sind durch die Globalisierung und die daraus entstandenen, tiefgreifenden technischen und gesellschaftlichen Veränderungen voller Selbstzweifel, weil wir nicht nur mit der wirklichen, sondern auch mit der simulierten Welt im ständigen Wettbewerb stehen. Im Prinzip können wir gar nicht mehr zwischen den beiden Welten unterscheiden. Vor noch nicht allzu langer Zeit mussten sich die Menschen nur lokal, höchstens regional miteinander vergleichen und messen. Doch heute, bei all diesen schönen, smarten, wohlhabenden und erfolgreichen Menschen, die wir täglich aus aller Welt von einem perfiden Algorithmus auf unser Smartphone zugeführt bekommen, bildet sich nach einem Blick in den Spiegel und dem Gang durch die eigene Wohnung eine der deprimierensten aller Fragen: „Wie um Himmels Willen kann ich da noch mithalten?“
In den lauten, engen und überfüllten Gassen unseres globalen Dorfes suchen wir nach Halt und akzentuieren unsere Hautfarbe, unsere Kleider, unser Geschlecht, unsere sexuelle Orientierung, unseren Impfstatus (neu), unseren Lebensstil, unsere finanziellen Möglichkeiten, unsere Nationalität, unsere Kultur, unsere Religion. Damit grenzen uns gleichzeitig von Menschen ab, die anders sind als wir und umgeben uns virtuell und real mit Gleichgesinnten. Wir verbringen unser ganzes Leben in einer Echo-Kammer, in einem individuell für uns zugeschnittenen News-Feed. Die Folge davon ist, dass wir wieder zu Stammesgesellschaften werden.
Wie können wir unsere Unterschiede überwinden und mit Andersdenkenden wieder in einen Dialog treten?
Zuerst möchten wir auf ein Paradox aufmerksam machen: Es dünkt uns, dass dort, wo wir materiell wachsen, wir sittlich und moralisch an Tritt verlieren. Auch der Begriff «Wahrheit» scheint immer weniger wichtig zu sein. Dafür wird eine Form der Politik massgebender, die unsere Kultur und unsere Sprache zu beherrschen versucht. So kann die Wahrheit nicht mehr als neutraler Massstab dienen, mit der wir in schwierigen Gesprächen einen gemeinsamen Nenner finden können.
Weil es leider keine weltverbindenden Erzählungen, Mythen oder Sagen gibt, die uns dabei helfen könnten, wie wir die Herausforderungen meistern können, welche wir als gesamte Menschheit miteinander lösen sollten, können wir nur zusehen, wie die ‚Cruel, Crazy, Beautiful World‘ in der wir leben, sich immer schneller fragmentiert.
Es gibt eine Gegenbewegung, die an Stärke gewinnt, je sauberer, gleicher und gerechter unsere Politiker die Welt machen möchten. Eine einfach gestrickte, aber unüberhörbare Rhetorik wird begleitet vom Wiederaufflammen von homophoben, sexistischen, nationalistischen und rassistischen Tendenzen. Populistische Kreise relativieren die Tragödie des transatlantischen Sklavenhandels oder stellen gar die Geschichte der Shoah in Frage.
Auf der anderen Seite des politischen Spektrums gibt es radikale Anti-Rassismus, militante Klima- und extreme Gender-Gruppen. Diese Menschen sind im festen Glauben, dass ihre Perspektive die einzig richtige ist. Sie fühlen sich Andersdenkenden ethisch und moralisch überlegen und nennen sich «erwacht». Aus diesem unreflektierten Selbstverständnis heraus kann ein antidemokratischer Diskurs entstehen, da eine sublimierte Form von Diskriminierung eingesetzt wird, um soziale Ungleichheit zu bekämpfen und «Gutes» zu bewirken.
Kein Schachzug ist in der Lage, das Schachspiel zu verändern. Weder werden wir über Militäreinsätze zum Frieden in der Welt gelangen, noch werden wir eine sozialere und gerechtere Welt schaffen, indem wir Andersdenkenden den Mund verbieten und sie wie Bürger zweiter Klasse behandeln.
Doch was wären die Grundlagen einer Welt, in der wir keine Identitätspolitik mehr betreiben?
Um irgendwo anzusetzen, müssten wir uns von der Illusion trennen, dass die angelsächsische Zauberformel aus Kapitalismus und Demokratie der einzige Weg zum Wohl der gesamten Menschheit ist. Wir sollten uns langsam mit der Tatsache anfreunden, dass es ganz verschiedene Auffassungen über diese Welt gibt. Wir sollten an unserer interkulturellen Kompetenz arbeiten und die Unterschiede anerkennen, die wir zu Menschen aus anderen Kulturen oder Religionen haben. Wir sollten verstehen lernen, dass sich alle Kulturen in ihren eigenen geschichtlichen Kontexten befinden und dass jede Kultur ihre eigene, einigende Wirklichkeit konstruiert hat. Dennoch scheinen die meisten Kulturen auf der Suche nach einer universellen Wahrheit zu sein, die ihre Kultur mit der gesamten Menschheit verbindet. Diese Chance sollten wir nutzen.
Es gibt keinen Königsweg zur Erlangung der Wahrheit. Doch gerade die westliche Welt glaubt, die absolute Wahrheit für alle Menschen entdeckt zu haben, ihre Wissenschaften haben hierbei die alten, religiösen Dogmen abgelöst. Alan Watts summierte das einmal so: „Die westlichen Staaten befinden sich seit vielen Jahrzehnten in einem nicht enden wollenden Amoklauf, die Welt zu verbessern. Wir haben die Wohltaten unserer Kultur, unsere Religion und unsere Technologie grosszügig auf der Welt verteilt. Wir haben darauf bestanden, dass alle Menschen die Segnungen unserer Kultur und unseres politischen Stils nach dem Motto übernehmen: Seid lieber demokratisch ihr Wilden, sonst erschiessen wir euch.“ Und nachdem wir jetzt die ganze Welt mit diesen Segnungen beglückt haben, sitzen wir in einem Café an der Marktgasse, schauen in unsere MacBooks Air und zucken bei jedem Spiegel-Hintergrundbericht zusammen, der uns mitteilt, dass uns die Welt hinter dem Bospurus immer noch nicht so wirklich mag.
Damit wir jemals zu so etwas wie einer globalen Gemeinschaft werden, sollten wir die Rollen, die wir auf der Theaterbühne der Welt spielen, nicht allzu ernst nehmen. Denn weder das Theaterstück noch die Rollen haben wir uns selbst ausgesucht.
Die Obsession mit unserer Identität hat uns die häufigsten Kriege eingebrockt und das meiste Leid auf dieser Welt verursacht. Wir sind nun an einem Wendepunkt der menschlichen Entwicklung angelangt, denn wir können die komplexen Probleme von heute nicht mehr mit dem Mindset von Neandertalern lösen. Wir haben uns die Erde untertan gemacht und lassen uns samt Cowboyhut für ein paar Minuten cool ins All schiessen, aber im inneren Wesen unterscheiden wir uns kein bisschen von den Höhlenbewohnern, die vor X-tausend Jahren gelebt haben. Die dringend notwendige Reise in unser «inneres Universum» anzutreten – vor diesem Trip ins Unbekannte haben wir mehr Angst, als wenn wir morgen zum Mond fliegen müssten.
Jeder Sozialarbeiter weiss, Verhaltensänderungen sind schwierig, am schwierigsten sind sie bei einem selber. Die angesehensten Pädagogen werden nicht selten zu ratlosen Eltern in der eigenen Familie. Darum sind kleine, bedächtige Schritte angesagt. Wir sollten vielleicht einfach einmal ab und zu das Handy aus der Hand legen und beobachten was in uns und um uns herum passiert. Vielleicht finden wir heraus, warum wir sind, wie wir sind und warum wir nie zufrieden sind mit dem was wir haben oder warum wir immer recht behalten wollen, besonders dann, wenn es eigentlich klar ist, dass wir unrecht haben. Es gibt also ziemlich viel zu entdecken.
Hören wir einmal Andersdenkenden zu und versuchen herauszukriegen, was sie uns sagen wollen. Vielleicht verstehen wir es sogar einmal. Aus Zuhören kann mit etwas gutem Willen Zugehörigkeit entstehen; Zugehörigkeit zur menschlichen Familie und Zugehörigkeit zu unserem Planeten.
Zweifellos kann man die im Text geäusserten Gedanken als Luftschlösser bezeichnen. Es ist an uns, ob wir diese Luftschlösser mit einem soliden Fundament unterlegen wollen oder nicht.
Marcel Emmenegger ist Sozialarbeiter und wohnt in Herisau.
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