Die Medien hatten mal wieder einen Sexismus-Skandal. Beim einschlägig bekannten Tamedia-Konzern. Nach dem Tagi auch im Magi. Nur: war wohl eine Fata Morgana.
Hat Finn Canonica «ficken» oder «fuck» gesagt? Wer das für unappetitlich und unerheblich hält, hat recht und irrt zugleich.
Die ehemalige «Magazin»-Journalistin Anuschka Roshani erhob im Hamburger «Spiegel» auf vier Seiten happige Vorwürfe gegen den ehemaligen Chefredaktor des «Magazin» und gegen Tamedia. Sie sei dort gemobbt worden, übel sexistisch angegangen, unter vier Ohren, aber auch coram publico.
So habe Canonica «tourette-artig ficken» gesagt, behauptet Roshani. Alle anderen Ohrenzeugen bestätigen dagegen, dass er gelegentlich «fuck» oder «bullshit» gesagt habe, was auch nicht fein ist, aber sicherlich nicht das Gleiche.
Sofort erhob sich grosses Geschrei und Wehklagen in den Konkurrenzblättern in der Schweiz. «Blick» und CH Media (der Konzern hinter dem «Tagblatt») berichteten breit, selbst die NZZ und gar die vornehme «Zeit» stimmten in den Chor der Verdammnis ein. Welche unerträgliche und frauenfeindliche Machokultur, unter der eine Frau leiden musste, der dann sogar gekündigt wurde, behauptete die «Zeit» im Indikativ.
Als wären diese Vorwürfe belegt und bewiesen, nicht blosse Behauptungen einer gekündigten Mitarbeiterin, die zuvor selbst Chefredaktorin des «Magazin» werden wollte, aber nicht dafür berücksichtigt wurde. In all diesen Medien kamen anonyme Quellen zu Wort, die weitere wilde Behauptungen aufstellten. Es sei alles noch viel schlimmer gewesen, es habe ein wahrer «Psycho-Terror» geherrscht; unerträglich. Selbst die seriöse NZZ schrieb, die berüchtigten voneinander unabhängigen Quellen hätten ihr Zustände wie in Sodom und Gomorra bestätigt
Anonym macht mutig; seriöse Journalisten sind immer äusserst vorsichtig, wenn eine Quelle darum bittet, nur ohne Namen zitiert zu werden. Denn geschieht das wirklich aus Angst vor Repressalien – oder um ungehemmt ablästern zu können, anzuschwärzen, sich zu rächen?
Einer der anonymen Heckenschützen wurde inzwischen enttarnt. Roshani hatte seine schmierige Behauptung übernommen und zitiert. Der damalige Chefredaktor Canonica habe eine weibliche Brust aus Plastik auf seinem Schreibtisch gehabt, und die jeweils bei Einstellungsgesprächen mit Mitarbeiterinnen anzüglich massiert. Ausserdem habe er ein Verhältnis mit einer Praktikantin gehabt, behauptete der ebenfalls im Unguten geschiedene ehemalige «Magazin»-Redaktor Mathias Ninck.
Alles Unsinn, alles erfunden, alles nachweisbar falsch, belegt ein inzwischen an die Öffentlichkeit gedrungener umfangreicher Untersuchungsbericht einer Anwaltskanzlei. Im «Schweizer Journalist» wurde in einem akkuraten Artikel, der sich auf die Aussagen von insgesamt acht aktuellen und kürzlich beim «Magazin» beschäftigten Mitarbeitern stützt, die Behauptungen einer unerträglichen, sexistischen, toxischen Atmosphäre unter einem Chefredaktor, der ständig anzügliche Bemerkungen machte, als frei erfunden dementiert.
Es gibt diese Recherche, es gibt entlarvende Auszüge aus der Untersuchung, die Roger Schawinski auf Radio 1 publik machte. Und? Nichts und. Das Branchenorgan persoenlich.com und ausführlich das medienkritische Portal ZACKBUM.ch des Autors berichteten darüber – und sonst niemand. Fast niemand. Die ferne «Süddeutsche Zeitung» in München verfolgte diese neuen Entwicklungen im Skandal – und mutig «20 Minuten». Ansonsten herrscht finsteres Schweigen im Blätterwald.
CH Media musste sich schon zu einer Entschuldigung gegenüber dem Tamedia-Boss Pietro Supino aufraffen, weil der Konkurrenzkonzern – auf die Aussagen eines anonymen Denunzianten abgestützt – Unhaltbares behauptet hatte. Keines der anderen Medien hat bislang seine bisherige Berichterstattung korrigiert. Keine der feministischen Aktivistinnen, die sofort ein weiteres Beispiel männlicher Machtstrukturen und unerträglicher Diskriminierung von Frauen denunzierten, hat sich zu dieser peinlichen Entwicklung geäussert.
Der Klageartikel von Roshani und das anschliessende Gehetze hat inzwischen sogar dem ehemaligen Oberchefredaktor Arthur Rutishauser den Job gekostet. Er wurde als Bauernopfer degradiert, an seiner Stelle wurde eine unbedarfte Quotenfrau installiert, die den verbleibenden Tamedia-Journalisten signalisiert, wie schnurzegal die Zukunft dieses wichtigen Tageszeitungs-Konglomerats dem Besitzerclan von Tamedia inzwischen geworden ist.
Als sich der angeschossene Ex-Chefredaktor nach kurzer Schockstarre zu Wort meldete und den grössten Teil der Anwürfe als erlogen zurückwies, wurde das zwar kurz vermeldet, aber natürlich als verständliche Reaktion eines enttarnten Sexmonsters, der möglicherweise Ähnlichkeiten mit dem gefallenen Hollywood-Mogul Weinstein habe.
Was bleibt vorläufig? Keinem der angeblichen Recherchierjournalisten der grossen Medienhäuser ist es gelungen, eine simple und einfache Aufgabe zu erledigen: stimmen die Vorwürfe von Roshani, gibt es dafür Belege, Beweise, Zeugen, Indizien? Was sagen andere Beteiligte? Welche Motive haben anonyme Heckenschützen? Welche Motive könnte eine gefeuerte Mitarbeiterin, die selber Chefin werden wollte, wohl haben?
Besonders peinlich dürfte das für den «Spiegel» werden, der zurzeit noch behauptet, er habe die Aussagen von Roshani nachrecherchiert und Zeugenaussagen, sowie Belege dafür gefunden. Dem widersprechen alle vom «Schweizer Journalist» befragten «Magazin»-Mitarbeiter: keiner von ihnen sei vom «Spiegel» kontaktiert worden. Im Gegenteil, sie selbst verzweifeln fast an der einseitigen, voreingenommenen und unreflektierten Berichterstattung ihrer Kollegen.
Die «Zeit» lässt sogar eine Salome Müller in ihrem Schulaufsatzstil über diesen Fall berichten, die bereits Rädelsführerin eines Protestschreibens von 78 erregten Tamedia-Frauen war. Auch hier wurden schreckliche Vorwürfe von Sexismus, Unterdrückung und Diskriminierung erhoben und mit über 60 Beispielen illustriert. Nur: auch sie waren alle anonymisiert; kein einziger dieser Vorfälle konnte bis heute verifiziert werden.
Was bleibt als Zwischenbilanz? Eine offenbar rachsüchtige, gefeuerte Mitarbeiterin bekam eine grosse Plattform für ihre Vorwürfe. Nachdem die unkritisch übernommen und kolportiert wurden, dazu mit weiteren anonymen Denunziationen angereichert, stellt sich heraus, dass vieles nachweislich erfunden, anderes aufgebauscht und drittes schlichtweg falsch ist. Ein weiteres Mal wurde die Unschuldsvermutung mit Füssen getreten. Canonica ist als Journalist erledigt, sein Ruf unwiederbringlich und unrettbar dahin. Was bislang als unbestritten von den Vorwürfen übrigbleibt, reicht vielleicht knapp für eine Abmahnung. Aber nicht für einen Rufmord und auch nicht für einen Rausschmiss.
Könnte Canonica klagen, könnte Tamedia gegen den «Spiegel» klagen? Sicherlich; beide mit grossen Gewinnchancen. Nur: das kostet, und ob Canonica den finanziellen Atem dafür hat? Nur: Tamedia ist mit dem «Spiegel» über gemeinsame Recherchierteams verbandelt. Also sieht alles danach aus, als ob alle Beteiligten, alle Schuldigen an einem widerlichen Rufmord ungeschoren, unbelästigt und haftungsfrei davonkommen werden. Unerträglich.
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