Am 18. Juni stimmen wir bereits zum dritten Mal über das Covid-19-Gesetz ab. Zeit für einen Rückblick auf die Debatte während der vergangenen drei Jahre - und einen kurzen Ausblick.
In Situationen von Hektik und Panik geht oft das Augenmass verloren. So wurden während der Covid-Pandemie Personen, die sich nicht impfen lassen oder keine Maske tragen wollten, teilweise regelrecht dämonisiert und verunglimpft.
Nicht wenige derjenigen, die solches taten, wähnten sich dabei auf dem sicheren Boden der Wissenschaft. Und vergassen ganz: Wissenschaft ist primär eine quantitative Angelegenheit.
Hätten sie sich also nur ein wenig mit Zahlen und Fakten auseinandergesetzt, dann wäre ihnen aufgefallen - nein, hätte ihnen auffallen müssen: Impfskepsis ist keine neue Erscheinung, sondern hat in der Schweiz eine lange Tradition.
So schrieb die Schweizerische Ärztezeitung vor etwas mehr als einem Jahr: «Umfragen zufolge sind bis zu 40 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer skeptisch gegenüber den behördlichen Impfempfehlungen.» Dabei ging es, wohlgemerkt, nicht einmal um die neuartigen mRNA-Impfstoffe gegen das Coronavirus, sondern um den ganz gewöhnlichem Impfkatalog mit Impfungen gegen Masern, Röteln, Tetanus, etc.
Gemäss einer Umfrage von Comparis aus dem Jahr 2019 sind 60 Prozent der Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer überzeugt, dass bei Kindern alle aktuell vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) empfohlenen Basisimpfungen durchgeführt werden sollen. Nur ein Achtel sind in die Wolle gefärbte Impfgegner, ein weiteres Viertel sind skeptisch, aber nicht prinzipiell dagegen.
Im Teilprojekt 28 des Nationalen Forschungsprojekts 74 ging es genau um diese Impfskepsis. In der Zusammenfassung des Projekts steht: «Impfskepsis ist nicht gleich Impfverweigerung. Niedrige Impfraten hingen eher mit [...] einer Kommunikation zusammen, welche die Vorteile von Impfungen stark betonte und die Risiken oder Nachteile herunterspielte. Aus diesem Grund sollten Impfempfehlungen unter Einbezug von impfskeptischen Ärztinnen und Ärzten entwickelt werden. Um impfskeptische Patientinnen und Patienten zu erreichen, ist die Zusammenarbeit mit Komplementärmedizinern/-innen wichtig, da impfskeptische Patientinnen und Patienten diese bevorzugt aufsuchen.»
Anders gesagt: Sozialer Druck und Dämonisierung von Impfskeptikern ist genau das, was die Wissenschaft nicht empfiehlt. Wer solches tat und tut, kann sich dabei nicht auf die Wissenschaft berufen.
Bis zu vierzig Prozent Impfskeptiker - und da hören die Zweifel an der Schulmedizin noch lange nicht auf: Die Volksinitiative für die Komplementärmedizin wurde - bei einer Sammelfrist von 18 Monaten - innert 12 Monaten eingereicht und der Gegenvorschlag, der die Komplementärmedizin in der Bundesverfassung verankert, mit Zweidrittelmehrheit in der Volksabstimmung angenommen.
Wer nur die Schulmedizin für wissenschaftlich hält, müsste resigniert konstatieren: Die Schweizer, ein einig Volk von Schwurblern. Oder anders gesagt: Skepsis an der Schulmedizin ist hierzulande nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Dass im Fall der mRNA-Impfstoffe Impfskeptiker wie Aussätzige behandelt wurden, ist somit eher ein Fall von: Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht?
Der Schreibende ist gegen Diverses geimpft, inklusive dreimal mit dem Impfstoff Comirnaty gegen SARS-CoV-2. Aber weiss ich tatsächlich mit absoluter (statistischer) Gewissheit, dass ich damit meinem Körper etwas Gutes getan habe? Die ehrliche Antwort muss lauten: Nein, natürlich nicht. Ich weiss nicht mehr als all diejenigen, die sich in dieser Frage anders entschieden haben. Also vorerst einmal rein gar nichts.
Wissenschaft ist eine verrückte Sache: Nur selten lässt etwas wirklich beweisen, die meisten Hypothesen haben sich bloss «vorläufig bewährt». Bewährt bis zum Vorliegen eines Gegenbeweises. Somit gilt: Etwas zu falsifizieren ist einfacher, als etwas zu beweisen - ein einziger Gegenbeweis ist dafür womöglich ausreichend.
Doch auch dies wäre die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Universitätsprofessoren warten nicht darauf, bis jemand kommt und ihnen das Gegenteil beweist - und treten dann klaglos ab. Nein, dafür sind sie viel zu gerne Professor. Kommt jemand, der eine bislang vorläufig bewährte Hypothese falsifiziert, dann wird dieser in aller Regel mundtot gemacht - oder wenigstens totgeschwiegen. Es ist ja auch bekannt, der Professoren genau den Nachwuchs fördern, der ähnliche Theorien wie sie selbst vertritt.
Vom bekannten Wissenschaftshistoriker Thomas S. Kuhn stammt die These: Ein neues wissenschaftliches Paradigma setzt sich nicht durch, indem die Vertreter der alten Ordnung überzeugt werden - sondern indem sie aussterben.
Keine Verschwörungstheorie, durchaus nicht, aber auch in der Wissenschaft gibt es natürlich, wie überall, ein esprit de corps.
Zwei Faktoren helfen jedoch, diesen esprit de corps zu brechen: Zum einen die Autonomie - die Selbstverwaltung - der Universitäten. Zwar herrschen die lebenslang ernannten Professoren in ihren Fachbereichen oftmals wie kleine Könige - aber eben nur an ihrer eigenen Universität. Weil der Staat nicht in die Autonomie der universitären Lehre eingreift, besteht so auch keine Möglichkeit, dass eine überwältigende Mehrheit von Professoren in einem Land eine Minderheit an einer anderen Uni mundtot machen könnte.
Zum anderen der Egoismus der Menschen. Einen Nobelpreis gewinnt man kaum, indem man eine bereits etablierte Theorie noch weiter verfeinert - sondern indem man etwas völlig Neues (und seien es nur die Grundzüge davon) herausfindet. Und einen Nobelpreis hätte doch jeder gerne.
Was in der Wissenschaft gilt, hat auch im platten Leben Gültigkeit. Von Adam Smith, dem Begründer der Nationalökonomie, stammt die bekannte Aussage: «Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers und Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern davon, dass sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen.»
Zum Glück kann man da nur sagen! Wer möchte am Morgen schon vor einer Bäckerei stehen und rätseln müssen, ob einem der Bäcker heute wohl wohlgesinnt ist und sein Geschäft zu öffnen gedenkt. Wie viel einfacher und berechenbarer ist doch das Leben, wenn man sich darauf verlassen kann, dass der Bäcker in tiefster Nacht den Ofen einheizt, weil er damit Geld verdienen kann und will. Der Egoismus der Menschen, in produktive und gesunde Bahnen gelenkt, kann tatsächlich nicht hoch genug gelobt werden.
(Und wie schlecht endeten doch meist in der Menschheitsgeschichte die Versuche irgendwelcher Idealisten, allgemeine Glückseligkeit zu schaffen. Tatsächlich wäre der Welt wohl viel Leid und Unglück erspart geblieben, hätte es auch für kommunistische Politiker Boni-Programme gegeben, welche an das Wirtschaftswachstum gekoppelt sind.)
Was für den Bäcker gilt, gilt auch für fast jedes andere Gewerbe - zum Beispiel das Zeitungsgewerbe. Hier zeigen sich die beiden grossen zivilisatorischen Fortschrittsmotoren Faulheit und Gier gleichfalls in ihrer vollen Pracht: Ein bisschen die Propaganda der Regierung wiedergeben - gerne doch, so füllen sich die Seiten quasi von allein. Obendrein noch ein paar Millionen vom BAG für Inserate kassieren, plus etwas 'Covidioten'-Bashing für die Leserbindung - und fertig ist das unappetitliche Gebräu.
Doch das bisschen Faulheit und die paar Millionen sind nichts, wirklich nichts, im Vergleich zu einer rauchenden Kanone. Gibt es irgendwo ein krummes Ding, wird das Volk nach Strich und Faden belogen und betrogen, die Volksgesundheit ruiniert - dann knackt derjenige den Jackpot, der das aufdeckt.
Das aus der Wissenschaft bestens bekannte Gefangenendilemma zeigt, dass es für Mitwisser unsauberer Geschäfte (oder Teilnehmer einer «Verschwörung») unabhängig vom Handeln der anderen Beteiligten immer optimal ist, zu defektieren, das heisst, das Geheimnis auszuplaudern: Wer als einziger ein Geheimnis verrät, kann kassieren - wer es behält, während es andere ausplaudern, ist sowieso der Dumme.
Diejenigen, die gerne von der Lügenpresse fabulieren, müssen sich daher die Frage stellen lassen: Wenn sie wirklich die Wahrheit kennen würden - warum haben sie damit kein Millionenpublikum, keine Millionen verdient? Denn wer selber an die Wahrheit glaubt, der muss ja wohl davon ausgehen, dass Menschen allgemein an der Wahrheit interessiert und auch dafür zu zahlen bereit sind. (Oder mindestens eine vernünftige Hypothese dafür haben, warum sie selbst zwar an der Wahrheit interessiert sind, die meisten anderen Menschen aber nicht.)
Wenn jemand nicht reich oder erfolgreich ist, dann gib es in der Regel nur zwei Gründe dafür: der Betreffende will nicht - oder er kann nicht. In den allermeisten Fällen dürfte es wohl der zweite Grund sein. Die Erfolglosigkeit alternativer Fakten spricht somit gegen diejenigen, die sie verbreiten. Und der Begriff «Schwurbler» ist bloss noch der schmerzhafte Hinweis auf diese Erfolglosigkeit. Ganz nach der Devise: Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen.
Doch die eigenen Fähigkeiten zu überschätzen, ist sowieso eine zutiefst menschliche Eigenschaft: So hält bekanntlich eine grosse Mehrheit der Autofahrer die eigenen Fahrkünste für überdurchschnittlich gut - eine statistische Unmöglichkeit. Wer hingegen Bankangestellte für besonders befähigt hält, gewinnbringende Aktienempfehlungen abzugeben, sollte sich wiederum die Frage stellen, warum es diese, wenn es sich wirklich so verhält, überhaupt noch nötig haben sollen, weiterhin am Arbeitsplatz zu erscheinen.
Ein lustiges Phänomen konnte man auch am 31. März und 1. April 2022 im öffentlichen Verkehr beobachten. Hätte man einen beliebigen Passagier am 31. März gefragt, warum er einen Mund-Nasenschutz trägt, dann hätte die Antwort grossmehrheitlich wohl gelautet: Weil es wichtig sei, auf diese Weise die Übertragung des Coronavirus zu verhindern - und nicht etwa aus Angst vor Strafe.
Nur einem Tag später trugen wohl achtzig Prozent dieser Personen keine Maske mehr. Waren diese wohl alle der Ansicht, die Bedrohungslage hätte sich von einem Tag auf den anderen massiv geändert? Das wäre ungefähr so wahrscheinlich, wie wenn achtzig Prozent der Bevölkerung an genau demselben Tag entscheiden würden, morgen Tulpen zu pflanzen.
Wären an diesen beide Tagen Ausserirdische zur Erde geflogen und hätten das Schauspiel mitverfolgt, sie wären stattdessen wohl eher zum Schluss gekommen: Die Schweiz muss von einer grossen Sekte beherrscht werden, deren Mitglieder jeweils genau das tun, was ihnen ihr Guru mit Glatze und Borsalino vorschreibt. Statistisch eindeutig die plausibelste Hypothese - nicht nur aus der Sicht von Aliens.
Umgekehrt müssten Ärzte und Zahnärzte tatsächlich ziemlich dumm sein, während eines Grossteils ihres Berufslebens eine Gesichtsmaske zu tragen, wenn diese doch gesundheitsgefährdend wäre. Nicht sehr wahrscheinlich, dass sie wider besseres Wissen ihre eigene Gesundheit aufs Spiel setzen. Der Bezug auf den menschlichen Egoismus - in Form des Selbsterhaltungstriebs - hilft auch hier, diese Frage zu beantworten.
«Ich weiss, dass ich nichts weiss» - dies ist nicht bloss ein geflügeltes Wort, sondern beschreibt ziemlich genau die Situation, in der sich der moderne Mensch in der Informationsgesellschaft wiederfindet.
In den wenigsten Fällen ist direktes wissenschaftliches Fachwissen vorhanden - Spezialisierung sei Dank: Selbst ein Physikprofessor weiss von Medizin nicht viel mehr als ein Laie. Und da selbstverständlich auch Wissenschaftler nicht nur Ideale, sondern auch materielle oder quasi-materielle (Ansehen, Ehre, etc.) Interessen haben, ist selbst die wissenschaftliche Meinung immer mit einer gewissen Prise Vorsicht zu geniessen.
Woran kann man sich also halten? Einerseits daran, dass der Mensch ein gieriges Wesen ist - und Informationen bekanntlich oftmals bares Geld wert sind: Die 'Wahrheit' drängt ans Licht, weil man damit Geld verdienen kann. Und natürlich an statistische Wahrscheinlichkeiten: Dass die Hälfte der Bevölkerung ihre Überzeugung von einem Tag auf den anderen ändert, ist tatsächlich ziemlich unwahrscheinlich.
Andererseits scheint - in der realen Welt - paradoxerweise gerade die Furcht vor Fake News dazu führen, dass man etwas umso eher für wahr hält. Ganz nach der Devise: «Ich bin mir nicht sicher, ob der Wahrheit entspricht, was der Bundesrat sagt. Aber weil Roger Köppel das Gegenteil von dem behauptet, was der Bundesrat sagt, setze ich meine Zweifel beiseite und glaube dem Bundesrat.» (Oder umgekehrt.)
Auf diese Art und Weise glauben zwar alle etwas anderes - aber gerade weil der Andere etwas anderes glaubt, glaubt man dafür umso stärker an die eigene Wahrheit.
Ein bisschen logisches Denken hilft auch bei der Abstimmung zum Klimagesetz: Die Befürworter weisen gerne darauf hin, dass niemand zahlen muss, aber manche Geld erhalten. Kassieren, ohne dass jemand die Rechnung dafür bezahlen muss - das tönt definitiv nach einem ökonomischen Perpetuum Mobile.
Das gegnerische Komitee Rettung Werkplatz Schweiz hingegen schreibt von amerikanischen Milliardären, die Panik streuen würden, um «Versicherungen und Pensionskassen unter Druck [zu] setzen, in ihre Projekte zu investieren». Bloss: Kein Milliardär ist gezwungen, eigene Projekte zu lancieren. Stattdessen kann er, wie die erwähnten Versicherungen und Pensionskassen auch, in bestehende Projekte investieren.
Alternativ könnten diese Milliardäre auch, wenn sie Banken und Versicherungen erfolgreich dazu drängen, ihre Beteiligungen an Erdölfirmen zu reduzieren, diese Beteiligungen billig aufkaufen. Kurzum: Es besteht für sie keinerlei ökonomische Notwendigkeit, partout in eigenen Projekten investiert zu sein - Geld kann man schliesslich auf ganz verschiedene Arten verdienen.
Thomas Baumann ist freier Autor und Ökonom. Als ehemaliger Bundesstatistiker ist er (nicht nur) bei Zahlen ziemlich pingelig.
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