Nachdem sich die Situation in den Flumserbergen nach diversen Wolfsrissen zugespitzt hat, wollen die Verantwortlichen nicht mehr länger tatenlos zusehen. Die Politik ist gefordert, rasche Massnahmen umzusetzen, um die Nutztiere besser zu schützen.
Schafhirt Markus Eberle (oben rechts) liebt die Abgeschiedenheit, die Ruhe, die sein Beruf mit sich bringt. In der Natur, hoch oben auf der Alp, zu sein, ist das, was er seit seiner Schulzeit möchte. Zusammen mit seiner kleinen Familie tut er täglich alles, damit es den 650 Schafen auf der Alp Halde in Flums gut geht.
Und dies scheint ihm zu gelingen: Kuhglocken im Hintergrund, ab und zu blökt ein Schaf, die Wölkchen am blauen Himmel sind heute höchstens zur Zierde da – Idylle pur herrscht an diesem Dienstagmorgen. Doch der Schein trügt. Denn auf der Stirn von Markus Eberle haben sich tiefe Furchen gebildet. Die Erlebnisse der neusten Wolfsrisse haben ihm sichtlich zugesetzt. Sie gipfelten vor wenigen Tagen darin, dass ein Herdenschutzhund Fly von einem Wolf verletzt wurde und tierärztlich versorgt werden musste.
«Es war mit das Schlimmste, was ich bisher hier oben erlebt habe», erzählt er vor den Medien, die an diesem Morgen zahlreich erschienen sind. Kein Wunder, schliesslich ist inzwischen klar, wie sehr das Thema Wolf polarisiert. Eberle erinnert sich an die erste Nacht, in welcher die Schafe unruhig wurden, Nebel seine Sicht behinderte und es ein leichtes Spiel für den Wolf war, Jagd auf seine Tiere zu machen.
Er habe ein «Massaker» vorgefunden, einige Schafe waren verletzt, vier so schwer, dass sie getötet werden mussten. «Keine schöne Arbeit», so Eberle. Trotz umgesetzter Schutzmassnahmen sei es dem Wolf gelungen, Schafe zu reissen. Auch er selber habe regelmässig nach den Tieren geschaut, doch die Herdenschutzhunde waren aufgrund der Situation so mit Adrenalin vollgepumpt, dass es selbst für ihn nicht ganz ungefährlich war, in der Herde umherzugehen.
Vielgefragte Hunde
Jede zweite Nacht sei in den letzten Tagen und Wochen ein Wolf vorbeigekommen – die Situation habe sich mehr und mehr zugespitzt. Die Schafe waren verängstigt, die Herdenschutzhunde völlig erschöpft. Und auch an ihm sei alles nicht spurlos vorbeigegangen.
Weil die verletzte Hündin «Fly» aufgrund ihrer Verletzungen nicht mehr einsatzfähig war, war der Herdenschutz mit den verbleibenden Hunden unterbesetzt. Eberle fragte den Schafzuchtspräsidenten Martin Keller an, ob er ihm mit seinen Hunden aushelfen könne. «Gerade jetzt in der Saison ist es praktisch unmöglich, einen Herdenschutzhund zu erhalten», fasst es Keller zusammen. Obwohl immer mehr solcher Hunde eingesetzt werden, seien zu wenige Würfe geplant.
SBV Präsident Markus Ritter, Regierungsrat Beat Tinner, Ständerätin Esther Friedli, Geschäftsführer SGBV Mathias Rüesch, SGBV Präsident Peter Nüesch und Schafzuchtverbandspräsident Martin Keller (von links).
Mehr Wölfe
Dank zweier Hunde von Keller hat sich die Situation auf der Alp Halde inzwischen beruhigt. Doch keiner weiss, wie lange. Schliesslich konnte der Wolf diverse Erfolge verbuchen – er weiss, wo er seine Beute holen kann. Einerseits steige die Wolfspopulation an, sagt Peter Nüesch, Präsident des St.Galler Bauernverbands. Experten gehen davon aus, dass heute über 240 Wölfe in der Schweiz leben. «Andererseits lernt der Wolf stetig dazu. Er weiss, wie er die Herdeschutzmassnahmen überwinden kann.»
Bewilligten Abschüsse
Ende des Jahres geht die Zuständigkeit des Herdenschutzhundewesens vom Bund an die jeweiligen Kantone. Martin Keller zweifelt an, ob dieser Übergang reibungslos klappen wird. «Es hat zu wenig Herdenschutzhunde, die Züchter noch kein passendes Konzept, die Hunde sind erschöpft – und der Wolf merkt das.» Es müsse möglich sein, dass die Hirten selber, wie in Frankreich, bei Angriffen einen Verteidigungsabschuss tätigen dürfen.
Der St.Galler Bauernverband fordert deshalb, dass die Wildhut über die entsprechenden Kapazitäten verfügen müsse, um alle bewilligten Abschüsse innerhalb kürzester Frist zu tätigen – falls nötig, auch unter Beizug von Jägern. «Bei schadstiftenden Wölfen muss das ganze Rudel entnommen werden können. Dass der Tierschutz bei solchen Wölfen höher gewichtet wird, als es bei den Nutztieren der Fall ist, akzeptieren wir nicht mehr länger», so Peter Nüesch.
Personal gesucht
Dem pflichtet Markus Ritter, Nationalrat und Präsident des Schweizer Bauernverbands, bei. «Jedes Jahr das notwendige Vieh bei den landwirtschaftlichen Betrieben zu bekommen, ist für die Alpverantwortlichen keine leichte Aufgabe. Die Bauern müssen darauf vertrauen können, dass ihre Tiere im Herbst gesund von der Alp nach Hause kehren.» Als noch anspruchsvoller sieht er die Rekrutierung von qualifizierten und motiviertem Alppersonal an. Die Alpwirtschaft sei in Gefahr. Er zeigt sich enttäuscht über die zuständigen Behörden und Verbände. «Die Menschen in ihren beheizten Büros irgendwo in der Stadt können sich nicht vorstellen, was hier oben abgeht.»
Problemwölfe sind wahrscheinlich Elterntiere
Im Kanton St.Gallen wurden im letzten Herbst zwei Wölfe reguliert. Bereits 2022 und 2023 wurde aufgrund der erreichten Schadensgrenze der Abschuss eines Einzelwolfes auf der Alp Halde verfügt – dieser konnte aber von der Wildhut nicht vollzogen werden. Am 30. Juni 2024 wurde wieder eine Abschussverfügung erlassen. Bisher konnte noch kein Abschuss getätigt werden.
Regierungsrat Beat Tinner versuchte indes, das Thema Wolf zu relativieren. Der Wolf reisse auch kranke Wildtiere und sorge dafür, dass es zu weniger Verbissschäden an den Bäumen komme. «Das Thema ist emotional für die Menschen», bringt er es auf den Punkt. Aufgrund Fotofallen geht man bei den Problemwölfen in Flums von zwei Elterntieren aus – und damit dürfen diese (noch) nicht reguliert werden.
Zwei zusätzliche Wildhütestellen seien bereits bewilligt worden. Jährlich komme es in der Schweiz zwischen 1'000 und 2'000 Schafsrissen durch Wölfe. Dem gegenüber stehen 47'000 Tiere, die jedes Jahr durch Abstürze oder Blitzschläge auf der Alp verloren gehen.
Die gehäuften Wolfsrisse sind für Ständerätin Esther Friedli hingegen Beweis genug, dass die Wolfspolitik nicht auf dem richtigen Weg sei. Schadstiftende Wölfe müssten umgehend zum Abschuss freigegeben werden können. Und zwar nicht nur die Hälfte der Jungtiere, sondern das ganze Rudel. «Ein Wolf oder ein Wolfspaar reisst geschützte Nutztiere und von Seiten der Behörden kann nicht gehandelt werden. Eine proaktive Regelung muss möglich sein.»
(Bilder: Manuela Bruhin/pd)
Manuela Bruhin (*1984) ist Redaktorin von «Die Ostschweiz».
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