logo

Rücktrittsforderungen

Sie schreien «Rücktritt!» - aber auf welcher Grundlage?

Der St.Galler Gesundheitschef hat sich in die Nesseln gesetzt. Es hagelt Proteste, Stellungnahmen, Rücktrittsforderungen. Doch was hat Damann, ursprünglich Arzt, denn so Furchtbares gesagt? Er trägt den allgemeinen Alarmismus nicht mit - und das reicht bereits.

Stefan Millius am 02. November 2020

Die Juso, die Jungtruppe der SP, stellt gerne Rücktrittsforderungen. Es ist die Lieblingsdisziplin - neben der Kreation von Ideen, die oft sogar der Mutterpartei zu weit gehen, vom Stimmvolk ganz zu schweigen. Gegen Rücktrittsforderungen sind die Juso eigentlich nur, wenn es die eigenen Reihen betrifft. Zum Beispiel im Fall von Timo Räbsamen, dem neugewählten Wiler Stadtparlamentarier, der seine Verbrennungsfantasien und seinen Hass gegen Polizisten öffentlich machte.

Das alles hat der St.Galler Regierungspräsident und Gesundheitschef Bruno Damann nicht gemacht bei einem Auftritt bei TVO und einem Text im St.Galler Tagblatt. Er hat es sich nur erlaubt, das auszusprechen, was auch viele anerkannte Experten sagen. Zum Beispiel, dass die Hygiene- und Abstandsregeln bei konsequenter Anwendung ausreichend wären und dass es möglich ist - nicht gesichert, möglich -, dass das Coronavirus dereinst punkto Auswirkungen bei der Grippe angesiedelt wird. Und schliesslich sagte er noch, dass Sterben zum Leben gehört. Wer das ausspricht, wird derzeit als Zyniker verschrien, doch die Frage stellt sich, wo der allgemeine Aufschrei bei den Opfern der grossen Grippewellen war.

Aufgrund dieser Aussagen fordern die Juso Damann nun zum Rücktritt auf. Das hat natürlich faktisch keine Relevanz, es wäre, wie wenn der Trainer des FC Niederhasli Messi auffordern würde, seine Karriere zu beenden. Es dient der Profilierung der Jungpartei. Die «Gründe» für die Rücktrittsforderung sind denn auch nicht besonders originell. Die Juso beten einfach die Apokalypse nach, die uns seit Monaten prophezeit wird. Stichworte wie überlastetes Gesundheitssystem werden unkritisch als Fakten aufgeführt und benutzt, um dem Gesundheitschef eine «Verharmlosung» vorzuwerfen. Nebenbei heisst es auch noch, er stelle «den Profit vor die Gesundheit der Menschen.» Aus welcher Aussage diese Schlussfolgerung gezogen wird: Es ist ein Rätsel.

Und noch eine Jungpartei meldet sich zu Wort, die der Grünliberalen (GLP). Und das auf 2,5 eng beschriebenen Seiten. Da war jemand mitteilsam. Nur steht leider auch in der Stellungnahme der JGLP nichts neues. Sie beziehen sich mehrfach auf die Fallzahlen, die inzwischen nun wirklich jeder richtig einordnen können sollte. Nebenbei werden weitere einschneidende Massnahmen gefordert wie Fernunterricht in der Sekundarstufe II. Die Zeiten, als sich Parteien gegen die überbordende Reglementierungswut von Regierungen gewehrt haben, sind vorbei: Nun wollen die Parteien selbst lieber noch mehr Verbote, Verordnungen, Einschränkungen.

Immerhin stellt die JGLP nicht gleich auch noch eine Rücktrittsforderung, aber die kommt vielleicht noch, falls Bruno Damann die Fragen der Jungpartei nicht in deren Sinn beantwortet.

Bereits scharf reagiert haben bekanntlich auch die Grünen, die zwar noch nicht nach dem Rücktritt rufen, aber immerhin suggerieren, dass sie das demnächst noch tun könnten.

Die St.Galler Regierung mit Bruno Damann ist in der Tat ein Sonderfall - jedenfalls ein theoretischer. Denn aus dem tiefsten Osten kam Kritik am Bundesrat, der die Krise nützt, den Föderalismus auszuhebeln. Es ist bemerkenswert, dass eine Kantonsregierung selbstbewusst auf ihre Rechte pocht. In der Praxis hat St.Gallen inzwischen aber auch wieder eine Reihe eigener Massnahmen installiert, die nicht vom Bund verordnet wurden. Es ist also keineswegs so, dass der Kanton St.Gallen untätig bleibt. Aber immerhin im Unterschied zu anderen Kantonen verbunden mit Selbstbewusstsein gegenüber «Bern» und dem Versuch, so pragmatisch zu sein wie möglich. Der Panikmodus, der anderswo herrscht, wurde hier bisher vermieden. Und das ist eine gute Grundlage für die Umsetzung wirklich tauglicher, sinnvoller Massnahmen. Wer in Panik ist, handelt unüberlegt, zudem wird damit ein wachsender Widerstand der Bevölkerung herangezüchtet.

Bruno Damann ist von Haus aus Arzt. Es ist nicht so, dass hier ein Treuhänder oder ein Landwirt über ein Gesundheitsthema spricht. Gerade seine Äusserungen darüber, wie wir das Sterben verlernt haben, sind völlig korrekt. Damann wollte damit keineswegs Menschen herabwürdigen, die jemanden durch das Virus verloren haben. Die Aussage impliziert vielmehr, dass wir im blanken Entsetzen darüber, dass Menschen sterben, inzwischen jedes Augenmass verloren haben und bereit sind, das gemeinsame Leben vorzeitig aufzugeben. Oder wie wir es bereits einmal in diesem Artikel gesagt haben:

Es ist ein sensibles Thema, und wer direkt in seinem Umfeld betroffen ist, mag es anders sehen, aber ansprechen muss man es dennoch. Eine Krankheit, der in erster Linie Menschen erliegen, welche die durchschnittliche Lebenserwartung erreicht haben, ist keine Apokalypse. So tragisch jeder Einzelfall ist, so bleibt doch einfach die Erkenntnis, dass das Leben endlich ist. Das lernen wir alle bereits als Kinder. Aber offensichtlich dürfen wir uns alle zu Tode trinken, rauchen oder rasen, solange wir nur bitte nicht an Corona sterben.

Einige Highlights

Uzwilerin mit begrenzter Lebenserwartung

Das Schicksal von Beatrice Weiss: «Ohne Selbstschutz kann die Menschheit richtig grässlich sein»

am 11. Mär 2024
Im Gespräch mit Martina Hingis

«…und das als Frau. Und man verdient auch noch Geld damit»

am 19. Jun 2022
Das grosse Gespräch

Bauernpräsident Ritter: «Es gibt sicher auch schöne Journalisten»

am 15. Jun 2024
Eine Analyse zur aktuellen Lage

Die Schweiz am Abgrund? Wie steigende Fixkosten das Haushaltbudget durcheinanderwirbeln

am 04. Apr 2024
DG: DG: Politik

«Die» Wirtschaft gibt es nicht

am 03. Sep 2024
Gastkommentar

Kein Asyl- und Bleiberecht für Kriminelle: Null-Toleranz-Strategie zur Sicherheit der Schweiz

am 18. Jul 2024
Gastkommentar

Falsche Berechnungen zu den AHV-Finanzen: Soll die Abstimmung zum Frauenrentenalter wiederholt werden?

am 15. Aug 2024
Gastkommentar

Grenze schützen – illegale Migration verhindern

am 17. Jul 2024
Sensibilisierung ja, aber…

Nach Entführungsversuchen in der Ostschweiz: Wie Facebook und Eltern die Polizeiarbeit erschweren können

am 05. Jul 2024
Pitbull vs. Malteser

Nach dem tödlichen Übergriff auf einen Pitbull in St.Gallen: Welche Folgen hat die Selbstjustiz?

am 26. Jun 2024
Politik mit Tarnkappe

Sie wollen die angebliche Unterwanderung der Gesellschaft in der Ostschweiz verhindern

am 24. Jun 2024
Paralympische Spiele in Paris Ende August

Para-Rollstuhlfahrerin Catherine Debrunner sagt: «Für ein reiches Land hinkt die Schweiz in vielen Bereichen noch weit hinterher»

am 24. Jun 2024
Politik extrem

Paradox: Mit Gewaltrhetorik für eine humanere Gesellschaft

am 10. Jun 2024
Das grosse Bundesratsinterview zur Schuldenbremse

«Rechtswidrig und teuer»: Bundesrätin Karin Keller-Sutter warnt Parlament vor Verfassungsbruch

am 27. Mai 2024
Eindrucksvolle Ausbildung

Der Gossauer Nicola Damann würde als Gardist für den Papst sein Leben riskieren: «Unser Heiliger Vater schätzt unsere Arbeit sehr»

am 24. Mai 2024
Zahlen am Beispiel Thurgau

Asylchaos im Durchschnittskanton

am 29. Apr 2024
Interview mit dem St.Galler SP-Regierungsrat

Fredy Fässler: «Ja, ich trage einige Geheimnisse mit mir herum»

am 01. Mai 2024
Nach frühem Rücktritt: Wird man zur «lame duck»?

Exklusivinterview mit Regierungsrat Kölliker: «Der Krebs hat mir aufgezeigt, dass die Situation nicht gesund ist»

am 29. Feb 2024
Die Säntis-Vermarktung

Jakob Gülünay: Weshalb die Ostschweiz mehr zusammenarbeiten sollte und ob dereinst Massen von Chinesen auf dem Säntis sind

am 20. Apr 2024
Neues Buch «Nichts gegen eine Million»

Die Ostschweizerin ist einem perfiden Online-Betrug zum Opfer gefallen – und verlor dabei fast eine Million Franken

am 08. Apr 2024
Gastkommentar

Weltweite Zunahme der Christenverfolgung

am 29. Mär 2024
Aktionswoche bis 17. März

Michel Sutter war abhängig und kriminell: «Ich wollte ein netter Einbrecher sein und klaute nie aus Privathäusern»

am 12. Mär 2024
Teuerung und Armut

Familienvater in Geldnot: «Wir können einige Tage fasten, doch die Angst vor offenen Rechnungen ist am schlimmsten»

am 24. Feb 2024
Naomi Eigenmann

Sexueller Missbrauch: Wie diese Rheintalerin ihr Erlebtes verarbeitet und anderen Opfern helfen will

am 02. Dez 2023
Best of 2023 | Meine Person des Jahres

Die heilige Franziska?

am 26. Dez 2023
Treffen mit Publizist Konrad Hummler

«Das Verschwinden des ‘Nebelspalters’ wäre für einige Journalisten das Schönste, was passieren könnte»

am 14. Sep 2023
Neurofeedback-Therapeutin Anja Hussong

«Eine Hirnhälfte in den Händen zu halten, ist ein sehr besonderes Gefühl»

am 03. Nov 2023
Die 20-jährige Alina Granwehr

Die Spitze im Visier - Wird diese Tennisspielerin dereinst so erfolgreich wie Martina Hingis?

am 05. Okt 2023
Podcast mit Stephanie Stadelmann

«Es ging lange, bis ich das Lachen wieder gefunden habe»

am 22. Dez 2022
Playboy-Model Salomé Lüthy

«Mein Freund steht zu 100% hinter mir»

am 09. Nov 2022
Neue Formen des Zusammenlebens

Architektin Regula Geisser: «Der Mensch wäre eigentlich für Mehrfamilienhäuser geschaffen»

am 01. Jan 2024
Podcast mit Marco Schwinger

Der Kampf zurück ins Leben

am 14. Nov 2022
Hanspeter Krüsi im Podcast

«In meinem Beruf gibt es leider nicht viele freudige Ereignisse»

am 12. Okt 2022
Stölzle /  Brányik
Autor/in
Stefan Millius

Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.

Hier klicken, um die Mobile App von «Die Ostschweiz» zu installieren.