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Kein Selbstversuch

Sieben Tage ohne Handy: Man leidet anfangs wie ein Hund und fühlt sich schliesslich frei wie ein Vogel

Kürzlich wurde mir schmerzhaft bewusst: Verliert man sein Handy, bricht die geordnete Welt zusammen. Aber: Es hätte mir nichts Besseres passieren können. Und nur eine gewiefte Dame machte es möglich, dass ich während der schmerzhaften Stunden daran glaubte, das Gerät wieder zu bekommen.

Marcel Baumgartner am 28. August 2023

Ich würde mich als strukturierten und ordentlichen Menschen bezeichnen. Ich habe in meinem Leben praktisch noch nie materielle Dinge verloren. Den einen oder anderen Schirm und auch einmal einen Schal. Also nichts, dass absolut eng mit mir verknüpft ist – obwohl das beim Schal rein physisch infrage gestellt werden könnte.

Nun aber hat sich mein Handy von mir verabschiedet. Und das durchaus auch mit interessanten Begleiterscheinungen.

Da wäre einmal der effektive Verlust an sich. Ich bemerkte diesen an einer Firmenfeier - zu der ich mit dem Zug anreiste - etwas ungewöhnlich für mich erst zu einem sehr späten Zeitpunkt des Abends. Das spricht wohl für meine Gesprächspartner am Anlass. Wenn keine Langeweile aufkommt, muss man auch nicht zum Handy greifen, was man ja allgemein doch in einem ordentlichen Rhythmus tut, wie ich als «Abstinenzler» in den folgenden Tagen mehrmals beobachten konnte.

Das Gegenüber hört mit

Den Ort der Feier durchsuchte ich sowohl am Abend selber, als auch am nächsten Morgen nochmals Millimeter für Millimeter. Vergeblich. In mir reifte die Überzeugung, dass sich der tragische Vorfall, im Zug ereignet haben muss.

Dort setzte ich mich nämlich mit einer Arbeitskollegin in ein Viererabteil, das bereits von zwei Personen belegt war. Und mein Handy legte ich wohl dummerweise neben mir auf den Sitz, während ich in der Tasche kramte.

Das bestätigte sich, als sich rund 18 Stunden nach dem Vorfall eine Frau via Linkedin mit mir in Verbindung setzte. Sie habe ihm Zug neben mir gesessen und mein verlorenes Handy zu sich genommen.

Wie sie darauf gekommen ist? Sie hat einige Gesprächsfetzen von meiner Arbeitskollegin und mir aufgenommen und eine Google-Recherche gestartet. So führte ein Link zum anderen und schliesslich zu mir.

Ich bin ein Süchtiger

Happyend? Noch nicht. Die Dame hat das Handy nicht behalten, sondern dem Zugkontrolleur abgegeben. In der Folge gelangte es in einen langwierigen Verarbeitungsprozess bei den SBB, den ich hier nicht kritisieren möchte, da ich selbst für meine Dummheit verantwortlich bin. Wie ich erfahren habe, kommt es gerade während der Sommer- und Festivalsaison zu einer erhöhten Anzahl an Fundgegenständen. Ich bin also nicht allein.

Nun aber zum tragischen Teil. Tragisch war für mich die Erkenntnis, wie ich mich ab Samstagmorgen (nach dem verlustreichen Abend) fühlte: nämlich wie ein Süchtiger, der keinen Stoff mehr hat. Der Entzug machte sich in allen denkbaren und undenkbaren Momenten bemerkbar.

Ein extrem langer Sonntag

Ein erstes Freiheitsgefühl stellte sich am Sonntag ein. Wer kein Handy zur Hand hat, widmet sich anderen Aktivitäten. Und ganz ehrlich: Mir kam ein Sonntag noch nie so lange vor – im positiven Sinne.

Das setzte sich auch in der Arbeitswoche so fort. Meine tägliche Fahrt mit Bus und Zug zum Büro wurde nicht durch Newsseiten, Whatsapp-Nachrichten und Email-Kontrollen dominiert. Ich genoss die Umgebung und ein Buch, das bei mir schon seit geraumer Zeit auf dem Nachttisch vor sich hingammelte.

«Scheissegal»

Am Dienstag erreichte mich die Mitteilung der SBB, dass mein Handy gefunden wurde und schon bald die Reise zu meinem definierten Abholort antreten würde. Inzwischen war ich bereits im Stadium angekommen, in dem es mir egal war, ob es nun noch zwei, drei oder gar 14 Tage dauern würde, bis ich das Gerät wieder in meinen Händen halten darf. Ich hatte keine Entzugserscheinungen mehr.

Ausgehändigt wurde es mir schliesslich eine Woche nach dem Verlust – logischerweise mit leerem Akku. Und ich hatte es dann effektiv überhaupt nicht eilig, diesen wieder aufzuladen.

Politur für das Ego

Das Buch, das ich in dieser Zeit gelesen habe, beschäftigt sich übrigens mit der Frage, von welchen Dingen man sich lösen sollte, um zu mehr Freiheit zu gelangen – und wie stark solche Dinge dafür verantwortlich sind, um das eigene Ego zu befriedigen. Erhalten habe ich das Werk vor mehreren Wochen. Verschlungen habe ich es dann erst in der Phase, in der ich erstmals seit langem wieder gesunde Momente der Langeweile verspürte.

(Illustration: Depositphotos)

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Autor/in
Marcel Baumgartner

Marcel Baumgartner (*1979) ist Chefredaktor von «Die Ostschweiz».

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