Die Jugend sehnt sich nach der Vergangenheit. Die Antwort darauf ist ein Grossaufgebot der Polizei. Aber was erwarten wir, wenn statt echten Vorbildern bei den Jugendlichen die Influencer regieren? Ein Gastbeitrag von Marcel Emmenegger.
Illustration: Christoph Dombres / Flickr
Der Philosoph Friedrich Nietzsche sah den Nihilismus voraus, der sich in den westlichen Gesellschaften ausgebreitet hat. Bereits zu Nietzsches Zeit zerfiel die mit dem menschlichen Leben verwobene Religiosität, während die Loslösung der Gesellschaft von der Kirche weiter hastig voranschritt. Der konsumorientierte Materialismus nahm mit der Moderne weiter zu. Nihilismus heisst, dass es keinen Sinn im Leben gibt, dass die Weltgeschichte eine Irrfahrt ohne Ziel ist, es weder Gott, Wahrheit, noch allgemein verbindliche Ethik gibt – und erst recht keine moralischen Werte.
Den Hang zum Nihilismus sah Nietzsche als Folge einer lebensfeindlichen, einschüchternden und jenseits-gewandten Auslegung des Christentums. Ausgehend von dieser Denkweise muss man in diesem Leben leiden, um im nächsten dafür belohnt zu werden. Nietzsche beklagte ausserdem den Wandel von einem mit dem Leben verbundenen Gott zu einem abstrakten, kalten Konstrukt. Er ging sogar so weit, dass er verkünden liess, dass Gott tot sei.
Wenn uns Nietzsche in einem seiner Bücher mitteilt, dass Gott tot ist, meint er damit nicht, dass ein Wesen mit göttlichen Attributen nicht mehr existiert. Nietzsche prophezeite nur den Zustand der Menschheit nach dem Untergang eines metaphysischen Systems, das jedem Aspekt des menschlichen Daseins einen Sinn gab. Nach dem „Tod Gottes“ leben die meisten westlichen Menschen in einem System ohne zeitlose Ideale und althergebrachte Werte und sind dem gerade herrschenden Zeitgeist frei ausgeliefert.
Der postmoderne Denker Jean-Francois Lyotard setzte Nietzsches Argumente fort. Er war überzeugt davon, dass wir heute in einer Welt leben, in der die meisten Menschen nicht mehr an die Existenz von übergeordneten Erzählungen wie christlicher Religion oder marxistischer Gesellschaftstheorie glauben. Wie Nietzsche erkundet Lyotard, ob es möglich ist, ein sinnvolles Leben in einer Realität zu führen, in der es keine endgültige Wahrheit und keine gemeingültigen Normen mehr gibt.
Wie können wir in einer sinnlosen Welt ein sinnvolles Leben führen? Der Mensch im 21. Jahrhundert scheint dazu verdammt, ohne Gott einen Sinn in seiner Existenz entdecken zu müssen. Das ist schwierig. Es ist wichtig, dabei den Glauben an das Leben nicht zu verlieren.
Der Psychologe Viktor Frankl sass während des Krieges im Konzentrationslager. Seine Erfahrungen hat er in seiner Biografie «Trotzdem Ja zum Leben sagen» niedergeschrieben. Frankl zitierte oft Nietzsche: „«Hat man sein Warum des Lebens, so verträgt man sich fast mit jedem Wie.»
Jungen Menschen fällt die Sinnsuche in dieser Zeit schwer. Die meisten kopieren oder überzeichnen, was wir vorleben. Das war grenzenloser Konsum und eine nie da gewesene persönliche Freiheit. «Nach uns die Sintflut», lautete das unausgesprochene Gesellschaftsmotto. Corona hat der Party erst mal den Stecker gezogen.
Es gab Randale. Die Jugend hat Heimweh nach der Vergangenheit. Ein Polizeihelikopter kreiste nachts über der Vadianstadt. Die Brüche und Gräben in unserer Gesellschaft sind aber nicht über Nacht entstanden. Wenn eine ichbezogene Gesellschaft ihrer Jugend Influencer statt Vorbilder anbietet, die Politik aber plötzlich puritanische Werte wie Disziplin, Verzicht und Solidarität vom spassorientierten Nachwuchs einfordert, ist es vorhersehbar, dass dieses Vorhaben scheitern wird.
Marcel Emmenegger ist Sozialarbeiter und wohnt in Herisau.
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