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Bundesgerichtsurteil

Sozialhilfe trotz Freizügigkeitskonto – wo bleibt die Eigenverantwortung?

In einem neuen Leitentscheid hält das Bundesgericht fest, dass auch eine Person, die aufgrund eines Freizügigkeitskontos eine Kapitalleistung erhält, Anspruch auf Sozialhilfe hat. Damit entsteht ein weiteres problematisches Gruppenprivileg.

Artur Terekhov am 12. März 2024

Es scheint fast, als hätte das Bundesgericht die überaus emotionale Altersvorsorgeabstimmung vom letzten Wochenende abgewartet, um sein – für die Publikation im Jahresband der Leitentscheide vorgesehenes – Grundsatzurteil 8C_333/2023 zu kommunizieren. Dieses betrifft zwar nicht die im Abstimmungskampf nahezu omnipräsenten Ergänzungsleistungen, gleichwohl aber sachlich konnexe Aspekte im Zusammenhang mit potentieller Altersarmut. Konkret ging es um einen 60-jährigen Mann aus Rümlingen BL, der Sozialhilfe bezog, indes der Sozialbehörde sein Freizügigkeitskonto verschwiegen hatte. Aus jenem erhielt er (nach Steuern) eine Kapitalleistung von rund CHF 100‘000 ausbezahlt. Als der Betroffene sich im Alter von 63 Jahren für den Vorbezug einer AHV-Rente sowie Ergänzungsleistungen anmeldete, stellte die Gemeinde ihre Sozialhilfeleistungen ein, was unangefochten blieb. Zusätzlich forderte sie vom Betroffenen jedoch CHF 78‘000 zurück und machte geltend, jene Sozialhilfeleistungen seien zu Unrecht bezogen worden, hätte der Mann seine Kapitalleistung aus Freizügigkeit doch bereits im Alter von 60 Jahren beziehen können. Hiergegen wehrte sich der Betroffene, wobei er durch den Rechtsanwalt André Brunner vertreten wurde, der mitunter dadurch (zweifelhafte) Berühmtheit erlangte, dass er in seiner früheren Funktion als Strafrichter einen BaZ-Journalisten bei der Urteilsverkündung aus dem Saal weisen liess und dies damit begründete, sich in dessen Anwesenheit nicht konzentrieren zu können. Die kantonalen Instanzen wiesen die Rechtsmittel ab, doch das Bundesgericht bzw. dessen IV. öffentlich-rechtliche Abteilung in Luzern sahen es anders, wie aus der bundesgerichtlichen Medienmitteilung hervorgeht: „Zwar kann eine Pflicht zum Bezug von Vorsorgeguthaben mit 60 Jahren nicht kategorisch ausgeschlossen werden. Es wäre jedoch mit dem vorsorgerechtlichen Zweck dieser Mittel nicht vereinbar, wenn das ausbezahlte Freizügigkeitsguthaben im Zeitpunkt des AHV-Bezugs bereits vollständig aufgebraucht wäre. Eine Verpflichtung zum vorzeitigen Bezug von Freizügigkeitsguthaben muss deshalb zumindest dann als unverhältnismässig gelten, wenn ein neuerlicher Rückfall in die Sozialhilfe droht, bevor das Alter von 63 Jahren für einen Vorbezug der AHV-Rente erreicht ist.“ Da die CHF 100‘000 innert weniger als drei Jahren aufgebraucht wären, hielt das Bundesgericht fest, dass dem Betroffenen die Freizügigkeitsleistung zu belassen sei und ein Rückforderungsanspruch ausscheide. Konkret: Sozialhilfe trotz Kapitalleistung von netto CHF 100‘000.

Dies muss man sich zunächst einmal auf der Zunge zergehen lassen. Dieselbe Bundesgerichtsabteilung, die mit einem entlassenen Schaffhauser Gymilehrer, der als Geograf dem offiziellen Narrativ des menschengemachten Klimawandels widersprach sowie ein transsexuelles Individuum – nota bene in einem Zeitpunkt, als Art. 30b ZGB zur Möglichkeit der zivilstandsamtlichen Geschlechtsänderung noch nicht in Kraft stand – dem biologischen (statt: gefühlten) Geschlecht entsprechend angesprochen hatte, keinerlei Mitleid hatte (BGer 8C_385/2022), lässt nun bei einem Rentner, der eine Kapitalleistung von CHF 100‘000 verschweigt, bemerkenswerte Milde walten. Umso mehr gilt dies, als Sozialhilfe unstreitig subsidiär zu allen anderen privaten oder staatlichen Unterstützungsleistungen, mithin das allerletzte Auffangnetz ist. Dass für Sozialhilfebezüger eine allgemeine Vermögensgrenze von CHF 100‘000 bestehen müsste, macht das Bundesgericht zurecht nicht geltend. Vielmehr schafft es eine Sonderregel für Vorsorgegelder, was politisch zwar mainstreamkonform sein mag, im Lichte der Rechtsgleichheit (Art. 8 Abs. 1 BV) jedoch äusserst kritisch zu betrachten ist.

Indem das Bundesgericht sagt, einer 60-jährigen Person sei es nicht zumutbar, eine Kapitalleistung aus Freizügigkeit im Umfang von CHF 100’00 zu beziehen, ignoriert es, was offensichtlich ist: nämlich, dass es einer 50-jährigen Person, die von einem Onkel unverhofft eine Erbschaft von CHF 100‘000 erhält, diese vollständig verbrauchen muss und nicht etwa für das Alter ansparen kann. Um es mit Orwell zu sagen: Alle Tiere sind gleich, aber einige sind gleicher. Denn dass aktuell eine rational nicht begründbare Privilegierung älterer Menschen dem politischen Mainstream entspricht, lässt sich kaum ernsthaft bestreiten. Und zwar nicht nur bei der Abstimmung von letztem Wochenende, sondern auch in Covid-Zeiten, obschon nicht ansatzweise erhellt, was solidarisch daran sein soll, junge und nicht besonders gefährdete Studierende zu einer mRNA-Injektion mit Risiken von Myokarditis (eher Männer) bis Unfruchtbarkeit (eher Frauen) animieren zu wollen, wobei jene negativen Nebenfolgen gemäss dem Luzerner Gesundheitsökonomen und Titularprofessor Konstantin Beck kaum negiert werden können. Eine weitere Privilegierung betagter Menschen findet sich sodann in Art. 9a Abs. 2 ELG, der festhält, dass selbstbewohnte Liegenschaften bei der Ermittlung der Vermögensobergrenze für EmpfängerInnen von Ergänzungsleistungen ausser Betracht fallen. „Ergänzungsleistungen für Millionäre“ titelte anno 2017 sogar der mitnichten als sozialstaatskritisch geltende „Tagesanzeiger“. Demgegenüber müssen Studierende, deren Eltern in einem Eigenheim wohnen, damit rechnen, keine Stipendien zu erhalten. Zwar gibt es – je nach Kanton – bei selbstbewohnten Immobilien grosszügigere Vermögensobergrenzen (so etwa im Kanton Zürich: Anhang zur VAB/ZH). Diese ändern aber nichts daran, dass oftmals weiterhin kein Stipendienanspruch besteht, während bei Ergänzungsleistungen theoretisch wie praktisch auch eine Luxusvilla den Anspruch auf staatliche Gelder nicht entfallen lässt.

Dies soll nun keinesfalls als Aufruf verstanden werden, Stipendienansprüche von Studierenden auszubauen, denn nicht nur die rechtsungleiche Privilegierung älterer Menschen ohne sachlichen Grund ist verfassungsrechtlich problematisch, sondern auch die Privilegierung von Immobilieneigentümern gegenüber Eigentümern teurer Autos, Yachten oder jeglicher anderer Güter mit einem ökonomischen Verkehrswert. Gewiss ist totale Gleichheit nicht möglich und kennt die Schweiz – jedenfalls gegenüber nationalen Gesetzen – keine Verfassungsgerichtsbarkeit (Art. 190 BV). Dies ist aber kein Freipass für das Bundesparlament, eine unbestimmte Vielzahl an Sonderprivilegien für einzelne Personengruppen einzuführen.

Eine verfassungsrechtliche Betrachtungsweise – in Bezug auf die Rechtsgleichheit – allein hilft indes nicht weiter, liegt der Kern des Problems doch andernorts: nämlich in der zunehmenden Erosion der angeborenen Individualfreiheit, die nämlich auch Eigenverantwortung bedingt. Der Sozialstaat erweist sich dabei als irrationale, süchtigmachende Droge ohne innere moralische Rechtfertigung. Die liberale NZZ-Kolumnistin Claudia Wirz hält treffend folgendes fest: „Wer Subventionen sät, wird nicht Dankbarkeit, sondern neue Ansprüche ernten.“ Dies gilt natürlich nicht nur für Subventionen an Kulturschaffende oder Bauern, sondern auch Privilegien im Bereich der Altersvorsorge, ist doch an die offenkundige Banalität zu erinnern, dass das Alter – im Gegensatz etwa zu unvorhergesehenen Ereignissen wie Krankheit, Unfall oder Invalidität – per se kein versicherbares Risiko darstellt, wenn das Erreichen des Rentenalters der statistische Regelfall ist. Der moral-hazard-Effekt bewirkt zudem verhaltensökonomisch, dass es am einfachsten ist, das Geld fremder Leute für Dritte auszugeben, wie der bekannte Ökonom Milton Friedman – seinerseits Vertreter der Chicago School – anno 1980 in „Chancen, die ich meine“ zutreffend erkannt hat. Der seine Kapitalleistung verschweigende Sozialhilfebezüger, der vor Bundesgericht im eingangs erwähnten Leiturteil sogar noch Recht erhalten hat, ist ein mustergültiges Beispiel dafür. Doch auch die Haltung, sich von anderen finanzieren zu lassen, während man selber im Eigenheim wohnt, fällt in dieselbe Kategorie. All dies gilt nun freilich auch für sämtliche übrigen, nicht etwa aus gesundheitlichen Gründen erwerbsunfähigen Personen, womit einer staatlichen Altersvorsorge (jedenfalls im umverteilenden Sinn) im Ergebnis jede rechtsethische Grundlage entzogen ist.

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Autor/in
Artur Terekhov

MLaw Artur Terekhov ist selbstständiger Rechtsvertreter in Oberengstringen ZH.

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