Rund 57% der Wählerinnen und Wähler sprachen sich für Esther Friedli von der SVP als neue Ständerätin aus. SP-Kandidatin Barbara Gysi musste sich mit knapp 37% zufriedengeben. Noch am gleichen Tag beginnt das immer gleiche Spiel: Statt sich als gute Verliererin zu zeigen, wird «gemeckert».
Die St.Galler SVP zieht erstmals in die Kleine Kammer. Was schon mehrere gestandene Politiker – unter anderem auch Toni Brunner – versucht haben, gelang an diesem 30. April Esther Friedli. Wir haben darüber berichtet.
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass ihr Weg von SP-Urgestein Paul Rechsteiner vorgespurt wurde. Die Partei kann sich nun fragen, ob er wohl doch zu spät als Ständerat zurückgetreten ist – oder zu früh… Aber eigentlich ist das Schnee von gestern.
Barbara Gysi muss sich die Frage stellen, ob sie nicht doch besser auf einen zweiten Wahlgang verzichtet hätte, ob die Ausgangslage mit einer FDP-Kandidatin – Susanne Vincenz-Stauffacher – nicht eine andere gewesen wäre. Aber auch das ist Schnee von gestern.
Gysi wird zusammen mit ihrer Partei nun genau analysieren, was war – und was sein könnte. Das tun alle Kandidatinnen und Kandidaten gerne nach solch einem Wahlsonntag. Das heisst, die Gewinner tun es etwas später. Sie feiern zuerst ordentlich.
Während für Gysi nach dem ersten Wahlgang sehr schnell klar war, dass sie erneut antreten wird, war für sie nach dem zweiten Wahlgang sehr schnell ein möglicher Grund für die Niederlage gefunden: Die Medien. Die hätten von einer unmöglichen Mission geschrieben. Gysi mag damit zu Teilen recht haben. Sicherlich sind einige Wählerinnen und Wähler Zuhause geblieben, weil sie sowieso – wie in mehreren Publikationen behauptet, auch in dieser – von einem Friedli-Sieg ausgingen. Aber bei aller Liebe zur Ursachensuche: Es können kaum 25'000 Wähler gewesen sein…
Für Gysi ist klar, dass die SP im Herbst erneut einen Angriff auf den Ständeratssitz starten wird – wie auch andere Parteien. Ob mit ihr oder einer anderen Person lässt sie offen. Gegenüber dem St.Galler Tagblatt kritisiert sie aber deutlich den Umstand, dass ihr die Medien immer wieder abgesprochen hätten, mehrheitsfähig zu sein. Nun, das heutige Resultat hat dies zumindest nicht widerlegt.
Die SP bedauert verständlicherweise – nach so langer Zeit – den Verlust des Sitzes in der Kleinen Kammer: «Nach elf Jahren mit bedeutenden Verbesserungen für den Kanton St.Gallen verlor die SP den Sitz von Paul Rechsteiner an Esther Friedli von der SVP. Damit bewegt sich der Ständerat weiter nach rechts.»
Und SP-Parteipräsidentin Andrea Scheck sagt dazu: «Das ist schlecht für die Arbeitnehmenden, für Leute mit tiefen und mittleren Einkommen, für alle, denen der Klimawandel nicht egal ist. Sies verlieren ihre Vertretung». Gestärkt würden hingegen die Interessen der Grosskonzerne, der Versicherungen und Banken. «Wenn Arbeitnehmerinnen und Arbeiternehmer nichts mehr zu melden haben, ist das ein Rückschritt für St.Gallen», so Scheck.
Die SP blicke auf intensive Wochen mit einem aktiven und engagierten Wahlkampf zurück. Barbara Gysi habe auf die grosse Unterstützung von den SP-Sektionen, den Gewerkschaften und zahlreichen Organisationen und Verbänden zählen dürfen. «Die SVP hat das Geld, wir die Leute», sagt SP-Präsidentin Andrea Scheck. «Auch wenn heute der Ständeratssitz nicht gehalten werden konnte, zeigt das Wahlresultat, dass im Kanton viele Menschen leben, die sich ein sozial-ökologisches St.Gallen wünschen. Die SP zieht positiv in den Nationalratswahlkampf – für diese Menschen und für die Zukunft von St.Gallen.»
Damit ist der Wahlkampfmodus nun natürlich nicht beendet. Er geht erst richtig los. Zahltag ist am 22. Oktober 2023, wenn die ordentlichen Parlamentswahlen stattfinden.
Marcel Baumgartner (*1979) ist Chefredaktor von «Die Ostschweiz».
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