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Klipp & Klar

Staatsversagen auf Ansage

Regierungen und Verwaltungen scheitern an der Vielfalt der modernen Gesellschaft. Auch in der Bewältigung der Corona-Krise. Das staatliche Mikromanagement ist nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems.

Kurt Weigelt am 13. April 2021

Wir erinnern uns. Während des zweiten Lockdowns gestatteten die Bundesbehörden den Verkauf von Unterhosen. Pyjamas dagegen waren mit einem Verkaufsverbot belegt. Im Bündnerland durfte man mit dem überfüllten Postauto von Chur nach Parpan fahren. Abstand? Beschränkung der Passagierzahl? Fehlanzeige. Die Terrassen der Bergrestaurants am Zielort dagegen wurden auf behördliche Anweisung hin geschlossen. Dies trotz einer Corona-konform schlanken Bestuhlung. Gleichzeitig verkaufte die SWISS jeden Sitz in ihren wie Sardinenbüchsen organisierten Flugzeugen. Wenn zwei dasselbe tun, so ist es noch lange nicht dasselbe.

Masken galten zuerst als nutzlos, dann wurden diese empfohlen, später unter Strafandrohung befohlen. Trotz einer in Lockdown-Zeiten besonderen Nachfrage untersagten die Behörden den Verkauf von Spielsachen und Büchern im stationären Einzelhandel. Dies sehr zur Freude von globalen Online-Giganten, die sonst von der Politik bei jeder anderen Gelegenheit für ihre Arbeitsbedingungen und Steuertricks kritisiert werden. Die Liste an Corona-Absurditäten lässt sich unendlich erweitern. Vieles hat mit individuellem Versagen zu tun. Entscheidender sind jedoch systembedingte Unzulänglichkeiten. Wir haben es mit einem Staatsversagen auf Ansage zu tun.

Industrielle Logik

Die moderne Gesellschaft folgt einer industriellen Logik. Das Ziel sind Organisationen, die als perfekte Maschine funktionieren und in der Lage sind, massenhafte Bedürfnisse zu bewältigen. Und dies nicht nur in der Massenproduktion, den Massenmedien oder dem Massentourismus, sondern auch in der Staatsorganisation. Bürokratisierung und Zentralisierung durchdringen alle Bereiche des öffentlichen Lebens. In Bundesbern sitzen 35'000 Staatsangestellte, die Tag und Nacht Gesetze, Verordnungen und Verhaltensanweisungen erfinden, vollziehen und für das Glück der Menschheit sorgen.

Allein in den letzten zehn Jahren ist die Rechtssammlung des Bundes um einen Drittel angewachsen. Auf über 70'000 Seiten. Zur Konkretisierung des Lebensmittelgesetzes benötigt die Verwaltung 27 Verordnungen mit insgesamt 2080 Seiten. Ein Bürokratiemonster, das selbst Spezialisten überfordert. Noch etwas komplizierter die Regulierung der Landwirtschaft. Hier braucht es in Bund und Kantonen rund 4000 Seiten. Geradezu magersüchtig dagegen der Leitfaden der Bundesverwaltung zum geschlechtergerechten Formulieren. 191 Seiten. Allerdings, das Gendersternchen gab’s bei der Verabschiedung des Leitfadens noch nicht. Und so stehen wohl die nächsten 50 Seiten ins Haus

Vielfalt als Herausforderung

Max Weber beschreibt die Bürokratie als die rationale Form der legalen Herrschaft. Max Horkheimer spricht von der Totalverwaltung der modernen Gesellschaft. Alles wird reglementiert, kontrolliert, sanktioniert. Mit den Realitäten des 21. Jahrhunderts hat dies immer weniger zu tun. Regierungen und die Verwaltungen scheitern an der Vielfalt der modernen Gesellschaft. Die traditionelle rechtsstaatliche Kaskade von Verfassung, Gesetz, Verordnungen, Reglementen, Kontrolle und Bestrafung vermag die Wirklichkeit nicht mehr abzubilden.

Früher gab es das Restaurant Rössli, das Restaurant Sonne und das Restaurant Kreuz. Möglicherweise mit unterschiedlichen Angeboten, aber einem vergleichbaren Geschäftsmodell, vergleichbaren Öffnungszeiten und vergleichbaren Eigentumsverhältnissen. Heute gibt es das exklusive Fine Dining, Fast Food Restaurants, die Systemgastronomie, Takeaways mit Sitzplätzen, Takeaways ohne Sitzplätze, Bistros, die Teil eines Ladengeschäftes sind, Besenbeizen, Kioske mit Imbissangeboten, Foodtrucks, inhabergeführte Lokale, Filialkonzepte, Franchisingmodelle, es gibt Betriebe, die auf regionale Produkte setzen und alles selber machen, andere arbeiten mit Convenience Food. Und so weiter.

Keine Verordnung der Welt vermag diese Vielfalt abzubilden. Jede neue Vorschrift schafft neue Ausnahmen, neue Ungerechtigkeiten. Was wiederum neue Vorschriften nach sich zieht. Ein Teufelskreis. Wie so vieles hat die Corona-Krise diesen bürokratischen Irrsinn nicht geschaffen, aber schonungslos aufgedeckt.

Einige wenige Regeln genügen

Die Herausforderungen einer offenen und vielfältigen Gesellschaft lassen sich nur mit Offenheit und Vielfalt bewältigen. Die Politik muss sich von der Vorstellung verabschieden, dass es für jedes einzelne Problem eine allgemeinverbindliche Lösung gibt. Das staatliche Mikromanagement ist nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems. Dies gilt auch im Zusammenhang mit den Herausforderungen einer Pandemie. Regierungen, die der Bevölkerung vorschreiben, dass sie Unterhosen aber keine Pyjamas kaufen dürfen, sind von allen guten Geistern verlassen.

Die Verantwortung der Bundesbehörden liegt in allen übergeordneten Herausforderungen. Dazu gehören die Vorbereitung von Massnahmenplänen für Krisensituationen, der Aufbau eines digitalen Contact Tracings und alle Fragestellungen mit einer Schnittstelle zum Ausland, beispielsweise die Beschaffung von Impfstoffen. Wenig überraschend sind es exakt diese Bereiche, in denen die Mängelliste am längsten ist. Darüber hinaus hat sich Bundesbern um diejenigen Institutionen zu kümmern, die in der unmittelbaren Verantwortung der nationalen Behörden liegen, den öffentlichen Verkehr, die Armee, Swissmedic oder die Sozialversicherungen.

Für alle übrigen Bereichen der Gesellschaft gilt das Subsidiaritätsprinzip. Eine Aufgabe ist von der kleinsten möglichen Einheit zu erledigen. Dazu braucht es weder einen perfekten Plan noch detailversessene Gesetze und Verordnungen. Weit erfolgsversprechender sind einige wenige Regeln, die alle verstehen und die unverzüglich umsetzbar sind. Bei der Bewältigung einer Pandemie sind dies gegebenenfalls Einreisebeschränkungen, die Maskenpflicht in öffentlich zugänglichen Räumen, Hygieneauflagen, Distanzregeln oder Kapazitätsvorschriften für drinnen und draussen. Entscheidend ist, dass diese Vorschriften konsequent durchgesetzt werden und für alle gelten. Auch für staatliche Einrichtungen und staatsnahe Unternehmen. Alles andere zerstört das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Gemeinwesen. Und richtet damit einen Schaden an, der weit über die Corona-Krise hinaus geht.

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Autor/in
Kurt Weigelt

Kurt Weigelt, geboren 1955 in St. Gallen, studierte Rechtswissenschaften an der Universität Bern. Seine Dissertation verfasste er zu den Möglichkeiten einer staatlichen Parteienfinanzierung. Einzelhandels-Unternehmer und von 2007 bis 2018 Direktor der IHK St.Gallen-Appenzell. Für Kurt Weigelt ist die Forderung nach Entstaatlichung die Antwort auf die politischen Herausforderungen der digitalen Gesellschaft.

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