Was geschah wirklich in den Tagen, bevor Ex-Raiffeisen-CEO Pierin Vincenz Ende Februar 2018 festgenommen wurde? Und wie steht es tatsächlich um die Firma Investnet, um die sich alles dreht?
Wer der ungetreuen Geschäftsbesorgung beschuldigt wird, soll seinen Arbeitgeber geschädigt haben. Wie nennt man’s, wenn es umgekehrt sein könnte?
Die Firma Investnet steht im Fokus der Untersuchungen gegen den ehemaligen Raiffeisen-Boss Pierin Vincenz und seinen Kompagnon Beat Stocker. Hier wird auch von Seiten Raiffeisen mit allen denkbaren Kniffen gearbeitet. Denn es geht um ziemlich viel Geld. Aber nicht um Geld, um das Vincenz die Bank geschädigt hätte, sondern um einen zweistelligen Millionenbetrag, den sie ihm schulden könnte.
Wie das? Da wird es einen Moment lang etwas kompliziert, wie immer, wenn es um viel Geld geht. Die «Handelszeitung» hat das Problem nachgezeichnet.
Unter Leitung von Vincenz beteiligte sich Raiffeisen im Jahr 2012 mit 60 Prozent an diesem KMU-Finanzierungsvehikel. Man hatte Grosses vor und wollte Investnet an die Börse bringen. Was Vincenz nicht offenlegte: Er beteiligte sich privat mit 15 Prozent an der Firma, als sie 2015 in eine Holding verwandelt wurde; sein Kompagnon Stocker war schon seit Anfang verdeckt mit 13,3 Prozent beteiligt.
Laut einer Einschätzung der grossen Audit-Firma EY wuchs der Marktwert von Investnet um rund 60 Prozent bis 2017. Dazu gibt es noch eine Aktionärsbindungsvertrag, als man 2015 an die Börse wollte. Kurz gefasst bedeutet all das, dass Raiffeisen den Mitaktionären, darunter Vincenz und Stocker, bis zu 160 Millionen Franken schuldet, wenn die ihre Call-Optionen im Juli 2020 ausüben würden.
Alleine Vincenz würde so 35 Millionen kassieren. Konjunktiv, denn Raiffeisen sieht die Sache ganz anders. Ihrer Meinung nach ist sie inzwischen die alleinige Besitzerin von Investnet und ficht alle geschlossenen Verträge an; sie seien «aus wichtigen Gründen» nichtig. Im Februar 2018 hatte Raiffeisen verkündet, dass die finanziellen Verflechtungen bei Investnet aufgelöst seien. Aber die entsprechenden Verträge waren gar noch nicht unterschrieben, und dann wanderten Vincenz und Stocker in Untersuchungshaft.
Raiffeisen macht also «Willensmängel» und andere Gründe geltend und sieht sich selbst als einzige Besitzerin von Investnet. Und in dieser Eigenschaft hat sie verkündet, dass ganze 150 Millionen abgeschrieben werden mussten. Damit schlägt die neue Raiffeisen-Spitze um Guy Lachappelle gleich drei Fliegen mit einer Klappe.
Sie kann ihren Vorgängern vorwerfen, dass sie grosse Verluste hinterlassen hätten, also Vincenz und sein Stellvertreter und Nachfolger Patrik Gisel gar nicht die strahlenden Sieger gewesen seien. Mit diesem Abschreiber verlieren die Optionen im Besitz von Vincenz und anderen natürlich gewaltig an Wert. Und drittens kann sich die neue Mannschaft mit Erfolgen brüsten, wenn Ende dieses Jahr solche Beteiligungen als viel werthaltiger eingebucht werden können.
Allerdings hat diese Strategie zwei Haken. Sie funktioniert nur, wenn Raiffeisen die Zivilprozesse gewinnt. Und dem Abschreiber von 150 Millionen steht der von EY festgestellte deutliche Wertzuwachs entgegen. Denn mit noch so kreativer Buchhaltung kann man kaum begründen, dass eine Firma, die im Wert um 60 Prozent gestiegen ist, 150 Millionen an Wert abschreiben muss.
Dann gibt es noch eine letzte Merkwürdigkeit auf der Zeitachse. Am 26. Februar 2018 verkündete Raiffeisen, sie habe «zusammen mit den Minderheitsaktionären» beschlossen, die Besitzverhältnisse bei Investnet neu zu ordnen. Am 27. Februar fanden unter anderem bei Vincenz Hausdurchsuchungen der Staatsanwaltschaft statt. Das war für ihn «ein Schock», wie er noch den Medien sagen konnte, als morgens früh die Beamten vor seiner Haustür im Appenzell standen.
Am 28. Februar 2018 wurde bekannt, dass die Staatsanwaltschaft wegen einer im Dezember 2017 eingereichten Strafanzeige einer anderen Firma gegen Vincenz in Sachen ungetreue Geschäftsbesorgung ermittle. Raiffeisen teilte sofort mit, dass auch die Bank sich als Privatklägerin diesem Verfahren anschliesse. Am gleichen Tag wurden Pierin Vincenz und Beat Stocker zu Einvernahmen nach Zürich aufgeboten und anschliessend für über 100 Tage in U-Haft gehalten.
Das kann wie immer im Leben alles ein wirklich blöder Zufall gewesen sein. Oder, was natürlich reiner Vermutungs-Journalismus ist, aber sich aufdrängt: Im letzten Moment kam es bei der «Neuordnung» der Besitzverhältnisse bei Investnet zu roten Köpfen und Geschrei, statt zu Unterschriften. Worauf man sich dann auf das gute alte Sprichwort besann: Und bist du nicht willig ...
Denn ein allenfalls angeklagter oder gar verurteilter Straftäter Vincenz hat in einem Zivilprozess entschieden schlechtere Karten als ein strahlender Erfolgsmensch Vincenz.
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