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Behindertensession in Bern

Thurgauer Kantonsrätin ärgert sich: «Am schlimmsten sind solche, die Menschen mit Behinderungen bevormunden»

Fühlen sich Menschen mit einer Behinderung in der Schweiz integriert und akzeptiert? Nein, sagt die Thurgauer Kantonsrätin Barbara Müller. Deshalb nimmt sie an der ersten Behindertensession teil.

Manuela Bruhin am 21. März 2023

Seit 2012 sind Sie im Kantonsrat tätig. Sie haben eine Sehbehinderung und das Asperger-Syndrom. Wie ergeht es Ihnen im Alltag?

Ich habe selber keine Probleme mit meiner persönlichen Situation, da sich diese nicht ändern lässt und ich mich sehr gut arrangieren kann. Das sehen Leute mit lediglich einer Aussenperspektive oft anders. Darum wird auch immer wieder kolportiert, dass Menschen mit einer Behinderung eben nicht behindert sind, sondern behindert werden. Am schlimmsten sind solche, die Menschen mit Behinderungen bevormunden wollen. Selbstverständlich bin ich nicht erpicht auf sogenannte «gut gemeinten» Ratschläge.

Fühlen Sie sich akzeptiert und integriert?

Nicht immer. Generell herrschen hier in der Schweiz noch grosse Vorurteile gegenüber Menschen mit Behinderungen vor, explizit solche mit einer unsichtbaren Behinderung. Vor allem, was die Arbeitswelt betrifft, gibt es in der Schweiz einen enormen Nachholbedarf. Menschen mit Behinderung sind nicht einfach in den Zweiten Arbeitsmarkt zu integrieren – dies ist jedoch ein häufiges Bild in unseren Breitengraden. Ich bin promovierte Erdwissenschafterin und – für mich eine Selbstverständlichkeit – in der Forschung tätig. Um dies durchzusetzen, waren jedoch 17 Gerichtsfällte gegen die IV TG nötig – heute kann ich mich ungestört meiner Arbeit widmen, nachdem die IV TG aufgrund dieser Rechtsstreitigkeiten mein Dossier zur Beurteilung an die IV ZH abtreten musste.

Wo gibt es Ihrer Meinung nach erheblichen Nachholbedarf? Was stört Sie am meisten?

Nachholbedarf besteht vor allem bezüglich der öffentlichen Wahrnehmung von Menschen mit Behinderung. Hier sind sinnvolle und aussagekräftige Sensibilisierungskampagnen gefragt. Es geht vor allem darum, Menschen mit Behinderung schlicht und ergreifend als Menschen mit eigenen Begabungen, Fähigkeiten, Kompetenzen und Bedürfnissen wahrzunehmen und nicht als Aliens, die wie Zootiere angestarrt werden müssen oder minderwertig gelten. Ich störe mich auch am Begriff «Invalidenversicherung», da dies Minderwertig- oder Wertlosigkeit impliziert. Hier hat ein Umdenken stattzufinden.

Gibt es auf der anderen Seite auch Sachen, die sich in den vergangenen Jahren verbessert haben?

Ehrlich gesagt, fällt mir da kaum etwas ein. Seit der unseligen Kampagne zu den «Scheininvaliden» ist Bashing von Menschen mit Behinderung leider salonfähig geworden.

Diese Woche findet die erste Behindertensession statt. Sie sind Teilnehmerin der Session. Wie werden Sie sich dort einbringen?

Ich werde als Rednerin auftreten und über das doch negative Bild über Menschen mit Behinderung in unserer Gesellschaft sprechen. Ebenso werde ich mich zu Änderungsanträgen bezüglich der zu verabschiedenden Resolution äussern und auch neue Kontakte knüpfen.

Was erhoffen Sie sich persönlich von der Behindertensession?

Dass es keine Alibiübung darstellt und in Zukunft ein Parlament von Menschen mit Behinderung ähnlich wie den Jugendparlamenten aufgebaut wird.

Wo müssten die Hebel angesetzt werden, dass sich Menschen mit einer Behinderung nicht mehr so ausgegrenzt und bevormundet fühlen?

Grundsätzlich müssen Menschen mit Behinderung sich an allen Orten und in allen Organisationen, die Menschen mit Behinderungen vertreten, selbstbestimmter auftreten und für ihre Sache eintreten. Die sogenannte Stellvertreterpolitik ist längst gescheitert, da diese eben auf Bevormundung abzielt. Eine Selbstvertreterpolitik ist dringend angezeigt. Hierzu gehört auch die öffentliche Präsenz und Sensibilisierungsmassnahmen.

Gibt es demnächst für Sie Projekte oder Ziele, die Sie in dieser Hinsicht beschäftigen werden?

Sicher: die Etablierung eines Parlaments von Menschen mit Behinderung, Netzwerke gründen, die nur der Selbstvertretung verpflichtet sind. Ein langfristiges Grossprojekt wäre der Umbau der IV, indem die oft willkürlich agierenden kantonalen Stellen ersetzt werden. Statt dessen wären nur Kompetenzzentren für bestimmte Arten von Beeinträchtigungen möglich – dies selbstverständlich unter Einbezug des Knowhows von Selbstvertretern.

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Autor/in
Manuela Bruhin

Manuela Bruhin (*1984) ist Redaktorin von «Die Ostschweiz».

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