Josephin Habermann und Markus Brülisauer haben vor über drei Jahren den Schritt gewagt und sind nach Finnland ausgewandert. Heute besitzen sie 33 Schlittenhunde, ein Camp – und blicken im Interview zurück auf drei bewegende, herausfordernde, schöne und überwältigende Jahre.
Ihr seid vor mehr als drei Jahren mit euren Hunden nach Finnland ausgewandert. Könnt ihr heute sagen, dass ihr endgültig angekommen seid? Oder wie lange habt ihr gebraucht, euch zuhause zu fühlen?
Markus: Ich fühle mich seit dem ersten Tag zuhause.
Josi: Die zwei Jahre Vorbereitung in der Schweiz sowie die Zeit vorher in Deutschland waren ständig von Heimweh geplagt. Heimweh nach Lappland. Meine Herkunft ist Deutschland und ich bin dankbar, dort aufgewachsen zu sein und in der Schweiz gelebt zu haben. Aber mein Zuhause ist Finnland. Ich fühlte mich den nordischen Ländern immer verbunden. Als ich die finnische Kultur entdeckt habe, die Verbundenheit zur Natur, die Sauna, die störrische Verschrobenheit der Finnen mit den riesigen Herzen, da wusste ich: Das ist mein Zuhause.
Was für uns natürlich dazugehört, ist, die Sprache und Kultur zu leben. Und Sprache werden wir wohl noch weiterhin in Demut lernen. Aber ein festes Ziel ist es, bis zum Schuleintritt unseres Sohnes Aaro die finnische Staatsbürgerschaft zu beantragen.
Rückblickend habt ihr einen sehr schwierigen Zeitpunkt gewählt: Corona hat euch entsprechend in die Karten gespielt. Wie nah lag der Gedanke, aufzugeben?
Josi: Fluchen, Weinen, Streiten, alles zum Teufel jagen: Das geschah so circa einmal im Monat. Aber aufgeben? Nie. Was sicher auch daran lag, dass wir keine Alternative hatten. Wo sollten wir auch hin mit 33 Schlittenhunden, die Platz, Bewegung und am besten keine Nachbarn benötigen? Wir hätten nie zurück in die Schweiz gekonnt – auch wenn wir es gewollt hätten – ohne unsere Hunde im Stich zu lassen. Und das ist für uns keine Option.
Markus ist dann temporär zum Arbeiten zurück in die Schweiz geflogen, während ich den Camp-Alltag und die wenigen Gäste bewirtschaftet habe.
Wie habt ihr euch von den Strapazen erholt? Läuft das Geschäft nun wieder so, wie ihr es euch vorstellt?
Markus: Wir sind immer noch in der Rekonvaleszenzphase. Wir sind dankbar für die Buchungen, die nach Corona wieder eingetroffen sind. Und am meisten für die Gäste, die uns teilweise zwei Jahre treu die Stange hielten, um dann – sobald eine Reise wieder möglich war – zu uns zu kommen. Auch haben uns Familie und Freunde aus der Ferne nie im Stich gelassen. Wir stehen zwar an vorderster Front zum täglichen Kampf, unseren Lebenstraum zu realisieren. Aber weit hinter den Linien sind immer wieder Menschen, die uns Kraft geben. Wir sind in unseren Plänen so etwa eineinhalb Jahre zurück geworfen. Und diese Saison ist die erste, in der sich ganz langsam alles einspielt. Wir haben aktuell wunderbare Saisonkräfte im Camp und hoffen, dass in den nächsten Jahren alles etwas «einfacher» für uns wird, da die Strukturen im Camp wieder geregelter werden. Denn wir sind nun eine Familie und wollen darauf hin arbeiten, dass wir das auch im Alltag während des Winters sein können.
War das rückblickend zeitgleich auch eure grösste Herausforderung?
Josi: Für uns Beide war es wohl die Trennung von Arbeit und Privatleben. Es hat uns mehr Kraft und Energie gekostet, als wir erwartet haben. Das Leben in der Natur, mit täglich unvorhersehbaren grossen und kleinen Katastrophen, das ist kein Problem. Wir lieben dieses Leben. Aber das Gefühl, ständig auf Arbeit zu sein, auch wenn wir zuhause in unserem Wohnzimmer sitzen, ist manchmal überwältigend. Dabei geht es mehr um die ständige Verfügbarkeit für andere Menschen. Wir lieben Gäste und/oder Familien und Jugendgruppen, die hier sind. Aber um das Camp am Laufen zu halten, haben wir ständig Menschen hier. Von Helfern über Saisonkräfte bis hin zu Familieangehörigen, Freunden und Gästen. Das ist toll, aber manchmal brauchen wir auch Abstand.
Eine Beziehung zu haben, ist das eine. Zusammen zu arbeiten, ist aber noch einmal etwas ganz anderes. Wie harmoniert ihr im täglichen Geschäft?
Markus: Wenn der Raum für Privates fehlt, dann werden Kleinigkeiten manchmal zu stillen Schläfern, die darauf warten, im falschen Moment zu explodieren. Die zwei Jahre Zusammenarbeit in der Schweiz, noch vor der Auswanderung, waren bereits kostbare Lehrjahre. Und mittlerweile können wir sagen, dass wir es mehr oder weniger im Griff haben (lacht). Es gibt Momente im Leben, da kommen Emotionen mal mehr oder weniger stark zum Vorschein. Und wir haben gelernt, mit den Stärken, aber auch den Schwächen des Anderen umzugehen. Wir reden miteinander. Wir mussten lernen, dass es gute und weniger gute Zeitpunkte zum Diskutieren gibt.
Josi: Und, in dem Prozess sind wir immer noch drin, Themen, die zur Firma gehören, haben nichts mit Kritik an der eigenen Person zu tun. Den Partner als Arbeitskollegen und gleichberechtigten Geschäftsführer zu haben sowie gleichzeitig als einzige soziale Bezugsquelle im Alltag ist nicht immer einfach. Wir haben viel über uns als Personen gelernt und wir vermuten mal, dass dieser Lernprozess nie aufhören wird. Wir hoffen aber, dass es ruhiger wird und wir mit 50 zufrieden nebeneinander auf der Veranda im Schaukelstuhl sitzen und Whiskey trinken (lacht).
Markus: Nicht, dass wir das nicht jetzt schon tun würden (lacht).
Betrachtet man die Bilder, ist die Idylle gross: Schöne Hunde, eine traumhafte Umgebung, mitten in der Natur. Doch das ist auch mit haufenweiser Arbeit verbunden. Hättet ihr es euch so streng vorgestellt?
Markus: Körperlich streng, ja! Ich habe vorher bereits körperlich sehr streng auf dem Garten-Landschaftsbau in der Schweiz gearbeitet. Josi ist jede Form der «ungemütlichen» Arbeit gewohnt.
Josi: Die psychische Herausforderung haben wir unterschätzt – definitiv. Wir stehen noch hier und wir werden auch bleiben – solange das Schicksal auf unserer Seite bleibt. Aber die psychische Herausforderung, permanent für alles verantwortlich zu sein, von den Tieren über alle Menschen, die hier ein- und ausgehen, ist schon gross. Gleichzeitig wünschen wir uns manchmal, noch «mehr» machen zu können. Etwas mehr sinnstiftendes. Mehr im Tierschutz aktiv zu sein. Politisch und rechtlich etwas zu ändern. Aber der Camp-Alltag lässt manchmal kaum Luft zum Atmen. Und die Organisation übersteigt an einigen Tagen unsere Kapazitäten. Dann heisst es: Anhalten, Durchatmen und am nächsten Tag wieder neu angreifen.
Würdet ihr den Schritt der Auswanderung dennoch wieder wagen?
Beide: Ja – immer wieder. Solange es nach Finnland geht (lachen).
Gibt es auch Momente, in welchen ihr die Zivilisation vermisst?
Josi: Wir leben glücklicherweise in der Zeit der Globalisierung. Dank der allgegenwärtigen Medien haben wir immer Zugang zu Unterhaltung, Kultur, Kunst und können uns viel Wissen jederzeit aneignen. Dadurch entsteht nie das Gefühl, «abseits» der Zivilisation zu leben. Wir haben fliessend Wasser, Strom, eine Kaffeemaschine und Laptops. Unsere Highlights der Zivilisation. Alles andere ist Luxus – und das gönnen wir uns dann, wenn wir zufällig dahin kommen. Aber gegen einen leckeren Falafel und Döner, die vor die Haustür geliefert werden, hätten wir nichts einzuwenden (lacht).
Gibt es etwas, was ihr anders machen würdet?
Markus: Zumindest nicht im grossen Stil. Vielleicht würden wir einige bürokratische Prozesse etwas beschleunigen. Aber das lässt sich immer leichter sagen, NACHDEM man weiss, wie sie funktionieren. Aber sonst, nein. Alles, was wir gerne noch verändern würden, liegt vor uns.
Es kamen im Laufe der Jahre mehr Hunde dazu, ihr seid mittlerweile Eltern – an welchen Aufgaben seid ihr am meisten gewachsen?
Josi: Tatsächlich an der Beziehung zu Markus (lacht). Die Auseinandersetzung mit der eigenen Person ist das eine. Aber einen Spiegel vorgehalten zu bekommen, in Momenten, in denen es weh tut und ich mich selbst nicht sehen will, das hat mich schon sehr wachsen lassen.
Markus: Die Pandemie. Die hat gezeigt, dass wir es als Paar, aber auch als Firma in sehr schwierigen Zeiten schaffen. Direkt nach Firmenöffnung kam die Pandemie. Wir hatten einen totalen Einnahme-Ausfall, die Verantwortung für 33 Hunde, keine Reserven, nichts. Und dann geht es irgendwie weiter. Manchmal weiss ich nicht, wie. Aber irgendwie haben wir es geschafft, zumindest bis hierhin. Und das gibt mir jetzt in stressigen Momenten schon mehr Ruhe. Das Leben geht weiter.
Woran musstet ihr euch in eurer neuen Heimat besonders gewöhnen?
Markus: An die Unzuverlässigkeit und die andere Bedeutung von Zeit hier oben. Das betrifft Termine, Behörden, Baumaterialien. Selten passiert etwas so, wie es geplant ist oder ist zu dem Zeitpunkt verfügbar, wenn man es braucht. Das lässt sich schwer mit dem Schweizer Ordnungssinn verbinden. Mittlerweile bin ich da jedoch ruhiger geworden und nach nur drei Jahren schon sehr im finnischen Temperament angekommen.
Welche Pläne nehmen euch derzeit besonders stark in Anspruch?
Josi: Nachdem wir die letzten Jahre ausschliesslich damit beschäftigt waren, «zu überleben», spriessen jetzt die Ideen, wohin es in Zukunft gehen soll. Mich triggern dabei vor allem die Gedanken an Angebote für Menschen zur Selbstfindung, für Auszeiten, zum kreativ sein. Das reicht von Bildungs-Angeboten über Rückzugsurlaub für Autor*innen bis hin zur Erholung nach einer psychischen oder physischen Krankheitsphase oder zu gesunden und um anderen Menschen bewusst zu machen, WAS so schützenswert ist an dieser Natur, in der wir leben.
Markus: Mich zieht es in die kulinarische Ecke und ich träume von einem nachhaltigen kleinen charmanten Restaurant-Angebot mit lokalen Speisen, welche die Natur über die Zunge in das Herz der Menschen tragen.
Josi: Wir wollen also diesen Ort, unser Camp, weiter ausbauen. Das heisst aber nicht, grössenmässig zu wachsen. Sondern den Menschen das Erlebnis Natur mit allen Sinnen zur Verfügung stellen, noch intensiver als bisher. Für alle Bedürfnisse: von Abenteuerferien auf dem Schlitten bis hin zur tieferen Sinnsuche in der Einsamkeit Lapplands. Unser grosses Ziel dabei in den nächsten Jahren ist eine barrierefreie Wildnishütte. Denn alle Menschen sollen sich hier wohl fühlen und ein Recht haben, die Natur und Wildnis Lapplands zu erleben, unabhängig von der körperlichen Verfassung. Leider gibt es dieses Angebot hier im Norden fast gar nicht. Und mit einer barrierefreien, rollstuhlgerechten Hütte können wir vielleicht in unserer Region den Anfang machen. Dafür stellen wir gerade einen Insertionsplan auf und suchen Unterstützung.
Markus: Ganz langfristig wären wir gern aktiver im Einsatz für die Stärkung des Tierschutzgesetzes in Finnland, vor allem in Bezug auf die Schlittenhundeindustrie, von der wir ein Teil sind. Uns frustrieren die schwachen Regeln – kaum ein Tier ist in Finnland wirklich geschützt. Wir können vielleicht nicht politisch aktiv werden. Allerdings schwebt uns die Gründung eines skandinavien-weiten Tierschutzlabels vor. Das würde natürlich nur auf Freiwilligkeit beruhen, aber vielleicht den Stein zum Denkanstoss ins Rollen bringen. Wer weiss?
Beide: Also ja, wir haben mehr Ideen als Zeit. Wir werden sehen, wo wir in ein paar Jahren stehen (lachen).
Manuela Bruhin (*1984) ist Redaktorin von «Die Ostschweiz».
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