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Leitartikel

Umarmt Euch!

Ganz offen: Dass wir uns nicht mehr die Hände schütteln, damit kann ich gut leben. Meist muss man das ja bei Leuten tun, die man gar nicht näher kennen will. Aber das Fehlen jeder Nähe, das einige zum ewigen Standard erheben wollen, wird uns schädigen. Sehr langfristig.

Stefan Millius am 26. August 2020

Nein, in diesem Text kommen keine Zahlen vor. Der tägliche brave Rapport vieler Medien der «Fallzahlen», die vom Bundesamt für Gesundheit gemeldet werden, hat unterm Strich keinerlei Bedeutung. Hin und wieder wird er in Relation zur Zahl der getesteten Personen gesetzt, meistens nicht. Sterben will ums Verrecken auch niemand mehr an Corona. Kein Mensch weiss mehr, was stimmt, was relevant ist, welche Zahl welche Bedeutung hat. Wir werden einfach damit gefüttert. Und man wird den Eindruck nicht los, dass es nur darum geht, den Angstbarometer möglichst weit oben zu halten.

Aber seit wann genau haben wir eigentlich statistische Werte zur Lebensphilosophie erhoben?

Dass man an einer Sitzung mit Leuten, die man beruflich kennt, zu denen man freundlich sein muss, rein opportunistisch, die aber fürs eigene Leben sonst keine Bedeutung haben, keine Hände schütteln muss: Ich kann damit leben. Ein freundliches Kopfnicken, einige bestehen darauf, die Ellbogen kurz zusammenzuführen. Das tut der Lebensqualität keinen Abbruch.

Aber es geht ja weiter. Wir sollen uns nicht mehr zu nahe kommen. Fast alle. Wenn jemand nicht gerade zur engeren Familie gehört, müssen wir eineinhalb Meter Abstand halten. Das ist eine (kleine) Menschenlänge. Das ist viel. Das verhindert jede Nähe, jeden klaren Blick in die Augen, jede echte Kontaktaufnahme, jede Herzlichkeit. Wir können unsere Sympathie nicht mehr offen zeigen. Und offenbar finden das sehr viele Leute völlig normal. Wer sich dagegen ausspricht, ist erledigt. Er oder sie gilt als verantwortungslos, als unbelehrbar. Das aufgrund von Zahlen, von denen wir nach einigen Monaten Erfahrungswert sagen können: Sie besagen leider nichts.

Erinnern Sie sich, wie viele Menschen beim Aufkommen der Digitalisierung gejammert haben, durch diese werde der persönliche Kontakt unter Menschen erschwert? Na bravo. Was haben wir denn jetzt? Die Digitalisierung ist unser kleinstes Problem. Die hat sogar oft die Türen geöffnet zu echten Kontakten. Die danach auch ausgelebt wurden. Analog. Jetzt werden wir durch ein Virus getrennt, das ohne Zweifel existiert, das aber unser Zusammenleben sehr viel mehr diktiert, als es sein Recht wäre. Und als es die Zahlen rechtfertigen.

Unsere Kinder können vielleicht einmal von sich behaupten, 100 Jahre alt geworden zu sein. Allerdings mit der leichten Einschränkung, dass überfürsorgliche Mütter dafür gesorgt haben, dass im Quartier keine Kinder miteinander spielen. Wenn es so weitergeht, dann vielleicht sogar über Jahre hinweg. Und dass man selbstverständlich keinem Mitmenschen jemals näher kommt als unbedingt nötig. Menschliche Nähe war noch nie gesetzlich vorgeschrieben. Aber sie ist mehr als nötig.

100 Jahre Lebenszeit sind viel. Aber nach einem echten Leben klingt das nicht.

Der Kurs unserer Behörden hat eine klare Koordinate: Gesund bleiben und überleben. Und kein Mensch fragt mehr: Wofür bitte genau sollen wir überleben, wenn wir nicht leben dürfen? Einzelne Kantone weiten die Maskenpflicht aus. Es ist eine Frage der Zeit, bis das alle tun, und wenn die Saison der ganz normalen Grippe beginnt, wird noch einer drauf gesetzt. Wir sehen inzwischen an immer mehr Orten keine Gesichter mehr. Angstvoll flackernde Augen über der Maske: Das ist alles. Das war übrigens einmal das Thema der Burkadiskussion. Man will doch sein Gegenüber sehen!

Das spielt keine Rolle mehr. Inzwischen sind wir alle irgendwie Burka.

Unser Bundesamt für Gesundheit ist vom gleichen Geist beseelt wie Google. Auch der US-Konzern arbeitet daran, uns unsterblich zu machen. Unsere Smartwatch wird uns schon bald bei jeder Aktivität daran erinnern, dass diese allenfalls lebensverkürzend sein könnte. Was Falsches gegessen, getrunken, zu wenig Schritte absolviert? Geht doch gar nicht. Und die einzig richtige Antwort wäre: «Hey Google, das kann schon sein, aber an diesem Abend, an dem ich hemmungslos gesoffen und geraucht habe, da habe ich wenigstens wirklich gelebt! Mit anderen zusammen! Und dafür nehme ich auch zwei Jahre weniger in Kauf!»

Google misst nicht die Lebensqualität. Es misst den Wert an absolvierten Jahren. Das Bundesamt für Gesundheit tut dasselbe. Was für eine traurige Vorstellung über das Leben. Glaubt man an Gott, kann man sich mit dem Himmelsreich trösten. Tut man es nicht, muss man nüchtern feststellen: Eine immer irrationaler werdende Panik klaut uns die besten Jahre.

Wir haben einen unschätzbaren Vorteil gegenüber vielen anderen Kulturen: Wir mögen Obrigkeit nicht sehr. Wir gehen davon aus, dass wir selbstbestimmt sind und uns auflehnen können, wenn etwas keinen Sinn macht. Jedenfalls sind wir mit dieser Philosophie zu dem geworden, was wir sind. Das ist der Ansatz, an dem wir anknüpfen können. Anknüpfen müssen.

Deshalb die eindringliche Bitte: Umarmt euch, wenn es euch danach ist. Seid euch nahe, wenn beide das wollen. Lasst euch nicht führen von einem Zahlenwerk, das im besten Fall rein zufällig, im schlechtesten Fall beabsichtigt ist. Folgt nicht der Angstkultur. Dieses Virus ist nicht stärker als wir. Jedenfalls nicht, wenn wir zusammenhalten. Aber das ist es ja genau, was uns derzeit verboten wird.

Ist es verantwortungslos, sich für mehr Nähe auszusprechen? Möglich. Aber ist es verantwortungsloser, als die Abwesenheit jeder Nähe zu fordern, Menschen auseinanderzutreiben, ihnen die soziale Interaktion zu untersagen? Sinkende Fallzahlen dank einer Gesellschaft, die allmählich verlernt, wie es war, einfach zu sein. Miteinander.

Das ist ein verdammt hoher Preis.

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Stefan Millius

Stefan Millius (*1972) ist freischaffender Journalist.

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